Das verschwundene Kind
Schließlich machte er sich an die Durchsuchung der Schlafzimmer. Dr. Klings Raum erinnerte an ein Hotelzimmer. Nüchterne Möbel. Ein Fernseher an der Wand. Ein Landschaftsaquarell über dem Bett. Ein kleiner Schreibtisch vor dem Fenster. Die meisten Schubladen waren nur spärlich befüllt. Hier gab es nichts Interessantes, stellte Stephan fest und machte sich auf den Weg zum Raum von Veronika Kling. Einen Moment blieb er auf dem Treppenabsatz stehen, beugte sich über das dunkel glänzende Holzgeländer mit den barock gedrechselten Säulen und Stäben und lauschte nach unten. Die Perle schien gerade damit beschäftigt zu sein, ihre Gerätschaften wegzuräumen. Er hörte das Klappern der Staubsaugerrohre und das dumpfe Poltern verschiedener Plastikeimer. Schließlich fiel die Eingangstür ins Schloss, und Stille kehrte ein.
Stephan atmete tief durch. Nun hatte er die wunderbare Gelegenheit, sich gründlich umzusehen. Von dem, wonach er Ausschau hielt, hatte er nur eine diffuse Vorstellung. Dennoch gab es etwas, das ihn antrieb, ähnlich wie den Jagdhund, der einer Geruchsspur folgte, ohne eine konkrete Vorstellung von dem Hirsch zu haben, der ihn erwartete. Das Zimmer der Veronika Kling war deutlich aufwendiger eingerichtet. Ihr Bett war in ein Moskitonetz gehüllt. Die Farbwahl in Apricot und Orange war ähnlich wie in dem Shiatsu-Raum der Praxis. Auch an den Wänden hingen mehrere Mandalas. Vor dem Fenster saß, groß wie ein Schäferhund, eine Buddha-Statue aus dunklem Holz. Vor einer Wand lag ein eingerollter Futon. Ringsherum verteilt, standen kleine Tische, Kommoden und Truhen im asiatischen Stil. Es gab keinen Kleiderschrank. War das möglich? Er entdeckte eine unscheinbare Tapetentür in der Wand neben dem Bett und öffnete sie: ein begehbarer Kleiderschrank! Ein fleißiger und bestimmt teurer Schreiner hatte jeden Winkel des kleinen Nebenzimmers ausgebaut. Vor dem einflügeligen Fenster befand sich ein Klappladen mit Lamellen, durch die fahles Tageslicht fiel. Es hatte einen sanften Widerschein in einem mannshohen Spiegel, der an der Rückseite der Tür angebracht war.
Stephan betätigte den Lichtschalter, und das textile Reich der Kling erstrahlte. Er konnte sich Marens Gesicht und ihr Seufzen beim Anblick dieser Kostbarkeiten vorstellen. Mäntel und Jacken aus groben Wollstoffen, aus seidig glänzenden Materialien, aus Leder, aus Pelz. Handtaschen und Schuhe, die Labels trugen, die ihn ahnen ließen, dass auch nur eines dieser Utensilien bereits ein Monatsgehalt von ihm verschlingen würde. Er schaltete das Licht wieder aus, weil er fürchtete, dass der Schein nach außen dringen und seinen Besuch verraten könnte. War es nicht ein Widerspruch, dass die Kling, die einerseits so intensiv mit inneren Werten und Energieflüssen beschäftigt war, so viel auf diese Attribute des äußerlichen Scheins setzte?
Noch während er darüber nachdachte, fiel sein Blick auf ein Kleidungsstück, das sorgsam auf einen Bügel gehängt und mit etwas Abstand zu den anderen wohl zum Auslüften dort hing. Sofort wurde eine Erinnerung in ihm wach. Die verstärkte sich noch, als er näher trat und den Hauch von Moschus wahrnahm, der immer noch in den Fasern hing. Seine Hand strich vorsichtig über die Oberfläche. Sie war samtig weich. Mit spitzen Fingern zog er einige Fasern heraus und verstaute sie in einem Tütchen. Als er sich zum Gehen wandte, fiel sein Blick auf einen blauen Müllsack, der aus einem der unteren Regalfächer hervorquoll. Er zog ihn hervor und stellte an den Konturen fest, dass der Sack bis zur Hälfte mit einem voluminösen, runden Gegenstand gefüllt war. Das passte nicht in diese noble Umgebung. Ohnehin weckten Müllsäcke dieser Art bei Polizisten sofort den Drang, ihren Inhalt zu inspizieren.
Stephan zog einen übergroßen, weichen Ball hervor. War das ein Gymnastikgerät, mit dem die Kling Hometraining betrieb? Er zog den Gegenstand aus der Verpackung und hob ihn vor sein Gesicht. Es war kein Ball, sondern nur eine große Halbkugel. Am flachen Ende befanden sich breite, elastische Bänder mit Haken und Ösen, welche an BH -Verschlüsse erinnerten. Was hielt er da in den Händen? Eine überdimensionale, weibliche Brust? Richtig! Auf der Vorderseite gab es eine kleine Erhebung ähnlich einer Brustwarze. Wer zog sich so etwas an? War das ein besonderes Sexspielzeug einer eher zierlich gebauten Frau, die ihren Partner durch einen ungewöhnlichen Anblick scharfmachen wollte? Mit nur einem Busen? Wo
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