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Das verschwundene Kind

Das verschwundene Kind

Titel: Das verschwundene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Bezler
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komplett eingerichteten Kinderzimmer stand. Alle Möbel waren weiß und durch die gedrechselten Verzierungen in einem romantischen Stil gehalten. Es gab eine Sonne-Mond-und-Sterne-Tapete, einen Wickeltisch mit weicher Auflage aus weißem Frotteestoff und vor dem Fenster eine Wiege mit einem mit Rüschen verzierten, zartrosa Himmel.
    Stephan trat näher. Sein Herz pochte heftig, als er sich über das Bettchen beugte. Er erstarrte: Ein Neugeborenes! Ganz friedlich schlafend lag es auf der Seite und hatte eine zur Faust geballte, winzige Hand gegen das knubbelige Kinn gedrückt. Die zart geäderten Lider waren fest geschlossen. Über den Wangen lag ein rosa Hauch. Unter dem weißen Häkelmützchen lugten einzelne schwarze Härchen hervor. Der kleine Schmollmund war halb geöffnet. So lag es – regungslos. Absolut regungslos! Stephan hielt seinen Handrücken vorsichtig an die Wange des Kindes. Er zog die Decke zurück und hob das Kind aus dem Bett. Sein Köpfchen sank schlaff zur Seite. Er hielt sofort die Hand darunter. Stephans Körper schien ferne Erinnerungen abzurufen. Ein feiner Schmerz durchfuhr ihn. Er betrachtete das Kind in seinem Arm. Größe und Gewicht stimmten. Der Körper fühlte sich weich und nachgiebig an. Aber die Wärme fehlte. Das Zucken der Lider im Schlaf fehlte. Und der Atem! Diese kurzen Atemzüge, die manchmal ein leichtes Rasseln in dieser winzigen Nase verursachten und dazu führten, dass sich der Mund unwillig verzog. Dann wusste man, gleich wacht es auf! Gleich heult es, und ich muss sehen, wie ich es wieder in den Schlaf wiegen kann. All das fehlte. In seinen Armen befand sich kein Baby, sondern eine originalgetreue Puppe. Sogar die winzigen Fältchen über den Lidern und die Grübchen in den Wangen und auf den kleinen Fäusten waren akribisch genau in Kunststoff nachgebildet. Er zog die Mütze zurück. Der zarte Haarflaum war in kleinen Löchern der Kopfhaut verankert. Das schien eine besondere Künstlerpuppe zu sein, die aufwendig hergestellt worden war. Was kostete so etwas?
    Sein Blick fiel auf eine Nische unter dem Fenster, die er vorher übersehen hatte. Auf einem mit rosa Samt überzogenen Kindersofa saßen die Geschwister des Babys: ein etwa zweijähriges Mädchen in einem Jeansträgerrock mit Applikationen, einer weißen Bluse und darüber einer passenden Jeansjacke. Daneben saß ein vielleicht vierjähriger Junge mit dunkler Jeanshose und einem blau karierten Hemd. Er hielt ein aufgeschlagenes Bilderbuch auf den Knien. Seine Schwester schien es mit ihm anzusehen. Wie das Baby waren die beiden Puppen den kindlichen Vorbildern in Größe, Haltung und Gesichtsausdruck täuschend echt nachempfunden. Dennoch hätten alle Eltern der Welt auf Anhieb erkannt, dass die übertriebene Sauberkeit und der überkorrekte Sitz der Kleidung nicht der Wirklichkeit entsprechen konnten. Das Mädchen hatte die blonden Haare zu zwei neckischen Rattenschwänzchen gebunden. Das etwas dunklere Haar des Jungen war mit einem braven Seitenscheitel versehen. Die Gesichter wirkten so lebendig, weil die Haut der Wangen und auf der Stirn mit einem rosa Hauch überzogen war. Die einzeln in die Lider eingesetzten Wimpernhärchen ließen die Glasaugen strahlen. Eigentlich erwartete man jeden Augenblick einen Wimpernschlag oder eine andere Bewegung. Dass dies nicht geschah, erzeugte im Betrachter Beklemmung und Erschaudern in einem. Der eingefrorene Moment, das Stillleben verlorener Lebensspuren – Stephan kannte diese Bilder und Empfindungen nur zu gut. Sie stellten sich an jedem Tatort bei ihm ein. Er nannte es sein »Tatortgefühl«. Er stand dann regungslos am Ort des Verbrechens, als wolle er die Szene nicht stören. Nur seine Augen tasteten jeden Winkel, jeden Gegenstand ab, und hinter seiner Stirn entwickelte sich aus dem vorgefundenen Standbild ein laufender Film, in dem Tote wieder lebendig wurden, Türen öffneten, Tee tranken, einen Kampf auf Leben und Tod führten. Die Phantasie konnte in dieser Weise arbeiten und zu wichtigen Erkenntnissen führen, wenn dieser Erstarrung etwas Bewegliches vorausgegangen war. Aber hier in diesem Puppenzimmer hatte nie etwas gelebt. Es war ein ewiges Standbild ohne Hoffnung auf den Film. Die Vergeblichkeit dieses Bemühens verstörte den Betrachter. Es war gespenstisch, dass sein »Tatortgefühl« sich dennoch an diesem Ort einstellte. Warum? Was war das hier? War es das Arrangement einer notorischen Puppensammlerin, die, ähnlich wie der männliche

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