Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)
Porte, nicht wahr?«
Er rauchte und musterte mich eingehend.
Ich war zwölf. Was gab es da zu betrachten?
»Ja, stimmt. Ich bin übrigens hier geboren.«
»Sie waren dann aber zwanzig Jahre lang nicht mehr hier. Hat man mir erzählt.«
Er deutete ein Lächeln an. »Hat man dir erzählt?«
»Dieser Jemand hat gemeint, er sei überrascht, Sie hier zu sehen, und sagte, Sie wären schon lange nicht mehr in Spirit Lake gewesen. Seit » – ich wagte es – »dem Belle Ruin.«
Er überlegte, nahm wieder einen Zug. »Wie fügt sich das Belle Ruin in diese Geschichte über die Devereaus ein?«
Weil ich es einfüge , wollte ich schon sagen. »Ich werd Ihnen sagen, wie: Hier passiert einfach zu viel Schlimmes. Drei Mordfälle, ein Mordversuch, eine Entführung.« Ich machte eine kummervolle Pause. »Die von Ihrem Baby.«
Dann fiel mir ein, warum ich es alles ineinanderfügte. »Dies hier ist die Stadt der Tragödien .«
35. KAPITEL
Es war mir gerade eingefallen, und ich wünschte, es wäre lieber nicht passiert.
Stadt der Tragödien.
In dem Moment, als ich es ausgesprochen hatte, begann sich alles zu verändern. Ich meine nicht, verändern im Sinn von Wetter oder dass man ein Vermögen macht oder verliert oder dass Glück sich in Pech verwandelt. Es änderte sich eher die Art, wie die Welt aussah.
Ich stand auf dem Gehweg draußen vor dem Haus der Woodruffs, nachdem Morris Slade in seinem roten Sportwagen davongefahren war, und mein Gehirn blockierte – so wie ein Motor blockierte, wie der Motor von Dwaynes Laster es mal machte. Oder wie wenn man einen Muskelkrampf kriegt. Ich kam einfach nicht auf den nächsten Gedanken. Vielleicht war es eine echte Schreibblockade, obwohl ich ja gar nicht schrieb.
Ich stand bloß da und starrte ins graue Licht. Alles sah aus wie vom Regen abgewaschen, nicht klarer und heller, bloß trauriger. Wenn überhaupt ein Gedanke kam, dann der an die Serviererinnen. Komisch, dass ich mich nicht mehr erinnern konnte, wie viele es waren. Normalerweise sah ich drei, es hätten aber auch vier oder fünf sein können. Obwohl sie vermutlich nicht alle gleichzeitig kamen, sah ich sie immer zusammen, ein Schwarm bunter Vögel, die in mein kleines Leben hinein- und dann wieder weggeflogen waren.
Ich musste meine Füße in Richtung Hotel in Bewegung setzen. Als sie sich schließlich bewegten, war es wie das Schlurfen einer Greisin. Eigentlich wollte ich nirgendwohin, wollte mich ins Gras legen oder gegen den Zaun lehnen und nichts tun, außer über das nachdenken, was Morris Slade gesagt hatte. Oder nicht gesagt hatte.
»Das ist ja schrecklich, Emma. Wann ist denn das alles passiert? Und wem? Die kleine Devereau wurde ertränkt, sagst du. Und Ben Queens Tochter. Und Rose.« Er wandte sich mit der Zigarette zu dem Aschenbecher, der auf einem Messingständer thronte. »Ein Mordversuch? Wem ist das denn passiert?«
»Mir.«
Ich erzählte ihm die Geschichte, in allen Einzelheiten, die mir einfielen. Da müsse ich ja furchtbare Angst gehabt haben, meinte er, und unglaubliche Selbstbeherrschung dazu.
Ich stimmte ihm zu.
»Und Ben Queen hat dich gerettet?« Ja. Er überlegte lange. »Ben Queen ist ein guter Mensch. Ich habe nie daran geglaubt, dass er Rose umgebracht hat. Dafür liebte er sie zu sehr.«
Wenn ich sage, er verfiel in Schweigen, dann trifft es das richtig. Es war, als wäre er von hier oben im Halbdunkel plötzlich in etwas Trüberes und viel Beunruhigenderes gestürzt.
»Ich auch nicht«, sagte ich und fand mich auf einmal auch in unruhigen Wassern. Ich hatte das Gefühl, es kam ihn hart an, und konnte mich nicht dazu durchringen, das Belle Ruin noch einmal zu erwähnen.
Dafür tat er es. »Das Belle Ruin. Ist das Teil deiner Geschichte?«
Ich überlegte. »Ja«, sagte ich rasch, bevor er es sich anders überlegte. »Ein großer Teil. Es ist das größte Rätsel, das sich hier in der Gegend je zugetragen hat.«
Er rauchte und musterte mich sinnierend. »Du hast da eine Theorie, stimmt’s?«
»Hm, ja …« Ich ließ den Blick durch eines der hohen Fenster schweifen, wo ich die dünnen Silberfäden eines Spinnennetzes ausmachen konnte. Wo war meine umschweifige Art? Warum ließ sie mich jetzt im Stich? Eine winzige Spinne baumelte vom Ende eines Fadens. Plötzlich konnte ich tausendmal schärfer sehen.
Er sagte: »Es gab eine Menge Theorien. Eine davon war, dass die Entführung sich nie zugetragen hatte.« Zum ersten Mal nahm er sein Glas und trank.
Ich konnte bloß an eins
Weitere Kostenlose Bücher