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Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)

Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)

Titel: Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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gehören doch dazu.« Aufgeregt löffelte ich den Rest eines Marshmallows aus meiner Tasse. »Alle diese Orte sind sozusagen zu einem – nein, all diese Orte sind … wie heißt der Ausdruck?« Gab es dafür einen Ausdruck? »Sie wissen schon, wenn man selbstgebrannten Alkohol macht.«
    »In einer Destille, meinst du? Ach, du meinst destilliert.«
    Ich nickte. »Alle zu einem Ort zusammendestilliert. Zu einer Stadt.«
    »Es ist einfach unschön.« Miss Flagler erschauderte leicht.
    Unschöner als das, was Mary-Evelyn Devereau zugestoßen war? »Es ist bloß eine Theorie.«
    »Weißt du, Emma, wenn man mit so etwas wie Wachs arbeitet« – denn Miss Flagler verkaufte nicht nur Kerzen, sondern stellte sie auch selbst her – »das heißt, wenn man kreativ wird und, sagen wir, etwas neu erfindet, dann bleibt das Wachs an einem kleben, an den Fingern und so, weißt du.«
    Was wollte sie damit sagen? Was wollten sie beide sagen? Es hatte fast den Anschein, als sähen sie mich als Gefahr.
    Mich! Emma Graham. Zwölf Jahre alt und gefährlich.
    Es war kurz nach halb acht, als ich von Miss Flagler wegging, der Film hatte also schon angefangen, aber das machte nichts. Die erste Viertelstunde eines Films konnte man immer verpassen und trotzdem mitkriegen, um was es ging.
    Bevor ich das Kino betrat, stellte ich mich vor das Plakat, auf dem James Cagney aus schmalen Augen grimmig dreinblickte, wie immer, wenn er eine Maschinenpistole in der Hand hatte. Er hatte etwas Wildes, Unkontrollierbares. Ich fragte mich, ob die Dinge für mich durch den Film gefährlicher oder weniger gefährlich wurden. Ob James Cagneys Knurrigkeit sich auf mich übertragen würde? Wieso Dillinger gefährlich war, leuchtete mir ein, aber wieso ich?
    Offenbar hatte sich etwas von James Cagneys Grimmigkeit auf mich übertragen, denn als ich schließlich reinging, machte Mr McComas, dem das Kino gehörte und der selber oft die Eintrittskarten von einer großen Rolle weg verkaufte, ein besorgtes Gesicht.
    »Alles in Ordnung, Emma?« Er riss eine Karte ab.
    Offenbar guckte ich nicht mehr ganz so verbissen, denn er lächelte. »Ja, danke. Ich brauch bloß noch Popcorn.« Ich gab ihm einen Dollar, oder versuchte es jedenfalls.
    »Du hast mehr als eine Viertelstunde vom Hauptfilm verpasst. Ich lad dich ein.«
    Mr McComas war wirklich nett. Er und Mr Gumbrel waren gut befreundet, und ich verstand auch, wieso.
    Die Popcornmaschine quoll über, und Cora Rooney fing es in einer rotweißen Schachtel auf. Ich wollte unbedingt bezahlen, und Cora gab mir Wechselgeld raus. Schon konnte ich das laute, abgehackte Rattattattatt von Maschinengewehrfeuer und das Kugelknallen aus Handfeuerwaffen hören. Dann ein Schrei, Rufen, noch mehr Schüsse. Von der Eingangshalle her hörte es sich nach ziemlichem Getöse an.
    Ich ging mit meinem Popcorn durch die Schwingtür und blieb einen Augenblick im Dunkeln stehen, das wie eine schwere Hand auf meiner Brust lastete und mich zurückhielt. Oben auf der Leinwand war alles silbern, von den Gewehrläufen bis zu den glatt fließenden Kleidern der Schauspielerinnen, ihrem Haar und ihrem Schmuck. Kein Wunder, dass man es auch die Silberleinwand nannte.
    Ich genoss es, im Dunkeln zu stehen, mein Popcorn zu mampfen und abzuwarten, bis sich meine Augen ans Dunkel gewöhnt hatten und ich die leeren Sitze sehen konnte. Ich blieb länger als nötig stehen. Manchmal fragte ich mich, ob ich wirklich wegen der Filme kam oder eher weil es hier drinnen so behaglich war.
    Denn es war nett, sich in einer Menschenmenge aufzuhalten, die mucksmäuschenstill dasaß. Beim Hinsitzen konnte ich verstohlene Blicke über den Gang werfen und die Gesichter sehen, die staunend zur Leinwand gerichtet waren. Ich musste an Reihen über Reihen von kleinen Kindern in ihrem eigenen Geheimgarten denken, bei dem es sich in diesem Fall um Chicago handelte.
    Worum es in der Geschichte ging, war mir eigentlich egal. Ich schaute mir einfach gern James Cagney an, der mit seinen raschen, ruckartigen Bewegungen selber wie eine harte, schnelle Kugel aussah. Ja, sie mähten einander links und rechts nieder, auf mich zielten sie aber nicht.
    Ich fühlte mich in ihrer Gesellschaft behaglich, fast als hätten wir etwas gemeinsam: dort oben auf der Leinwand Jimmy, der die Luft mit Kugeln durchlöcherte, und hier unten ich, Emma, unbewaffnet, ungefährlich.

37. KAPITEL
    Am nächsten Morgen brachte ich Aurora ihr Frühstückstablett hinauf: Spiegelei, Speck, Toast und

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