Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)
ballte eine Faust vor meinem Mund, als wollte ich gleich husten, probierte das Wort »Hallo« im Kopf aus, um zu sehen, ob es ein echtes Wort war, und stieß dann hervor: »Mein Name ist Emma Graham.«
Mein Mund klappte zu wie Ree-Janes silbernes Puderdöschen. Ich wäre jetzt sogar – unfassbar! – froh um ihre Gesellschaft gewesen, bloß damit die die Kunstpause für mich überbrückte.
Morris Slade überbrückte sie selbst. »Emma Graham. Irgendwie kommt mir das bekannt vor. Bitte, komm rein.«
Ich trat in einen Raum voller Schatten und Pflanzen. Es war kühl, roch nach üppigem Grün, als wäre alles mit Wasser vollgesogen. Der seidige Teppich, auf dem ich stand, mutete wie Wasser an. Erst dachte ich, es hätte draußen angefangen zu regnen, doch das leise Geräusch kam von den rotierenden Flügeln des Deckenventilators.
Ich hätte mit Humphrey Bogart in einem Wirbelsturm in den Florida Keys sein können, war aber bei Morris Slade inmitten ventilatorverwirbelter Luft in Spirit Lake. So oder so war es wie im Film.
Er nahm ein kunstvoll geschliffenes Martiniglas (so was erkenne ich immer), hob es ein wenig an und sagte: »Möchtest du was trinken?«
Fast hätte ich gesagt: »Das Gleiche wie Sie«, hielt mich aber gerade noch zurück. »Ja bitte.«
Er wandte sich zu einem blank polierten Tisch hinüber, Walnuss oder vielleicht Kirsche, den der Ventilator mit wandelnden Schatten umhüllte und auf dem zahlreiche Flaschen und ein Eiskübel standen (ein ebenfalls wohlvertrauter Gegenstand).
»Coca-Cola? Rootbeer? Scotch?« Er lächelte.
Ich lächelte zurück. »Eine Cola, bitte.«
Er nahm ein Glas, kein gewöhnliches, klobiges, sondern eins wie seines, gab einen Eiswürfel hinein und füllte mit Cola auf. Dann stellte er es auf ein Tischchen neben einem Korbsessel gegenüber von einem dazu passenden Sofa. »Willst du dich nicht setzen?«
Wollte ich? Ich wollte.
Er nahm ebenfalls Platz – auf dem Sofa. »Du hast ein Notizbuch mitgebracht.« Er deutete mit dem Kinn auf meinen Spiralblock. »Bist du Schriftstellerin?«
Ich staunte über seine Frage, aber noch mehr darüber, dass er es ohne eine Spur von Sarkasmus sagte, ohne mich aufzuziehen. Mein Staunen katapultierte mich aus meiner Trance. Dieser Mensch war ein sehr geübter Charmeur.
»Hm, ja schon. Ich schreib grade diese lange Geschichte für den Conservative. Sie wissen schon.«
Er nickte. »Die Lokalzeitung.«
»Ich mache Interviews mit Leuten.« Ich wusste nicht, wie ich es angehen sollte: das Belle Ruin. Die Entführung. Ich überlegte, ob es ihm womöglich zu nahegehen würde. Wenn er gar nichts damit zu tun hatte, wenn sein Baby tatsächlich verschwunden war … Wieso hatte ich nicht vorher daran gedacht? Wo war meine ganze Vorbereitung? Ich senkte den Blick auf mein Notizbuch.
Morris Slade hatte ein Zigarettenetui aus seiner Jackentasche genommen und tippte mit einer Zigarette gegen die silberne Oberfläche. »Bin ich hier denn interessant?«
Ich nickte. »Es fängt nämlich vor vierzig Jahren an, mit den Schwestern Devereau.« Ich hatte das Gefühl, über ein Minenfeld zu gehen. »Zuerst kam Mary-Evelyn.«
»Zuerst?«
»Der erste Todesfall. Es hieß, sie sei ertrunken. Sie wurde aber von ihren Schwestern ermordet.«
»Mein Gott.« Er wollte gerade sein Feuerzeug an die Zigarette halten und hielt abrupt inne. »Ist das nicht bloß eine Klatschgeschichte? Bist du dir sicher?«
Ich nickte.
»Rose Devereau war meine Halbschwester, aber ich hatte kaum … . Ich war viel jünger als Rose.« Er zündete die Zigarette an, inhalierte, stieß den Rauch aus. »Kurz nachdem ich geheiratet hatte, wurde Rose von ihrem Ehemann umgebracht – nahm man jedenfalls an.«
»Von Ben Queen. Nein, ihre Tochter Fern hat sie getötet.«
Die Zigarette verharrte auf dem Weg zum Aschenbecher. Irgendetwas irritierte ihn. »Was? Davon habe ich nichts gehört.«
»Das hat niemand. Es wurde erst kürzlich aufgedeckt.« Von mir , hätte ich gerne hinzugefügt, tat es aber nicht. »Ben Queen, Ferns Vater, wusste es. Er hat die Schuld auf sich genommen.«
»Guter Gott. Woher weißt du denn das alles, Emma?«
»Das ist die Geschichte, die ich gerade schreibe – na ja, ein Teil.« Ich nahm das prächtige Glas mit meiner Cola, die viel besser schmeckte, als eine Cola normalerweise schmeckt. Vom schmelzenden Eiswürfel gekühlt, machte mich das Getränk ein wenig munterer. Ich ging zu meinen gut vorbereiteten Fragen über. »Also, Sie wohnten doch früher in La
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