Das Versprechen
Vermutlich, so sagte sich Lou, lebte ihre Urgroßmutter nun doch in einer ziemlich gewöhnlichen Gegend mit ziemlich gewöhnlichen Nachbarn. Vielleicht hatte sie eine Katze und ging jeden Samstag in einen Laden, in dem es nach Chemikalien und Zigaretten roch, um sich die Haare machen zu lassen. Lou und Oz würden Orangenlimonade trinken, auf der Veranda vor dem Haus herumhampeln, sonntags brav zur Kirche gehen und den Leuten winken, die in ihren Autos vorbeifuhren, und das Leben würde gar nicht so anders sein, als es in New York gewesen war. Daran war zwar nichts auszusetzen, aber es war nicht die abenteuerliche, atemberaubende Wildnis, die Lou hier erwartet hatte. Es war nicht das Leben, das ihr Vater selbst erlebt und über das er geschrieben hatte, und Lou versuchte, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.
Das Auto fuhr durch weitere Meilen Wald, ließ so manchen Felsen und tief eingeschnittene Täler zurück, und dann entdeckte Lou ein neues Schild. Diese Stadt hieß Tremont. Hier muss es jetzt sein, überlegte das Mädchen. Tremont schien gerade mal ein Drittel der Größe von Dickens aufzuweisen. Ungefähr fünfzehn Autos parkten schräg vor Geschäften, die denen der größeren Stadt ähnelten. Aber hier gab es kein Hochhaus und kein Gericht, und die Asphaltstraße war einem Schotterweg gewichen. Lou sah sogar hier und da einen Reiter mit Pferd. Und dann hatten sie Tremont hinter sich gelassen, und es ging noch höher hinauf. Ihre Urgroßmutter, mutmaßte Lou, wohnte offenbar außerhalb von Tremont.
Die nächste Ansiedlung, die sie durchquerten, hatte schon kein Ortseingangsschild mehr, das ihren Namen verraten hätte; die Hand voll Gebäude und die wenigen Menschen, die man hier sah, hätten auch kaum einen Namen gerechtfertigt. Die Straße war nun unbefestigt, und der Wagen holperte bei seiner Fahrt über die Buckelpiste von einer Seite zur anderen. Lou erblickte ein flaches Postgebäude, daneben einen abgestützten Haufen loser Bretter, ohne irgendein Schild, sowie eine verrottete Leiter. Schließlich gab es noch eine halbwegs große Gemischtwarenhandlung mit dem Namen »McKenzie’ s« an der Außenwand. Davor waren Kisten mit Zucker, Mehl, Salz und Pfeffer gestapelt. In einem Schaufenster von McKenzie’s konnte man ein paar blaue Overalls, Pferdegeschirre und Petroleumlampen entdecken. Das war schon so ziemlich alles, was es in diesem namenlosen Kaff am Rande der armseligen Straße gab.
Als sie über den weichen Boden fuhren, kamen sie an schweigenden Männern mit eingefallenen Augen vorbei;
manche waren unrasiert, und die meisten trugen dreckige einteilige Arbeitskleidung, Schlapphüte und derbe Schuhe. Sie waren zu Fuß, auf Maultieren oder Pferden unterwegs. Eine Frau mit leerem Blick, müdem Gesicht und knochigen Gliedmaßen, gekleidet in eine Baumwollbluse und einen Rock aus grob gewebter Wolle, der an den Hüften mit Sicherheitsnadeln zusammengerafft war, schaukelte auf einem kleinen Planwagen vorbei, welcher von zwei Maultieren gezogen wurde. Hinten im Wagen hockte eine Schar von Kindern auf Säcken mit Saatgut, die größer waren als sie selbst. Auf Gleisen, die parallel zur Straße verliefen, hatte eine Dampflokomotive mit zahlreichen angehängten Kohlewagons unter einem Wasserturm Halt gemacht und schien mit großen Schlucken zu trinken; bei jedem gierigen Zug quoll Rauch aus ihrem Schlot. An einem Berghang in einiger Entfernung konnte Lou eine Kohlenschütte auf hölzernen Pfählen ausmachen, und eine weitere Reihe Kohlenlaster fuhr wie eine Kolonne gehorsamer Arbeiterameisen unterhalb des Gebildes vorbei.
Sie fuhren über eine große Brücke. Ein winziges Schild klärte sie darüber auf, dass zehn Meter unter ihnen der McCloud River floss. In den Strahlen der aufgehenden Sonne glänzte das Wasser rosa und erinnerte an eine meilenlange, gewundene Zunge. Die Häupter der Berge erstrahlten in rauchigem Blau; unmittelbar darunter bildeten die Nebelschleier ein duftiges Schultertuch.
Da keine Ortschaften mehr vor ihnen zu liegen schienen, hielt Lou es für an der Zeit, sich mit dem jungen Mann am Steuer näher bekannt zu machen.
»Wie heißen Sie?«, fragte sie. Sie hatte viele Farbige kennen gelernt, in der Regel Schriftsteller, Dichter, Musiker und Bühnenschauspieler, mit denen ihre Eltern befreundet gewesen waren. Aber auch andere. Während der Exkursionen mit ihrer Mutter durch die Stadt hatte Lou farbige Menschen getroffen, die den Müll wegschafften, Taxen herbeiwinkten,
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