Das Versprechen des Architekten
verstehen, dass es hier keinen Schlüssel zu seiner Seele gäbe. Eine andere Sache natürlich ist, dass irgendetwas zu verstehen sie nie interessiert hat und sie Seelen nicht mit Schlüsseln öffneten, sondern mit brutalen Brecheisen und Nitroglyzerin.
Ihm war klar, dass er, wollte er kein Aufsehen an der Grenze erregen, so tun müsste, als würde er bloß zu einem Tagesausflug ins Ausland fahren. Beziehungsweise er müsste mit leeren Händen von hier weg. Aber es ist in dieser Wohnung ohnehin nichts mehr, was er so schrecklich arg vermissen würde.
Alles griff ineinander wie die Zahnrädchen eines ganz präzise eingestellten Uhrwerks (so eines Schweizer Chronografen mit Breguet-Spirale und Regulierzeiger. Sie hatten ihm die Reise nach Wien ja gerade jetzt, just in dem Augenblick, da er sie brauchte, besorgt. Als würde sein mittelprächtiges Kaderprofil hier plötzlich keine Rolle spielen. Aber vielleicht lag es daran, dass Leutnant Láska verschwunden und durch sein unerklärliches Verschwinden selber in Ungnade gefallen war und das auf seine bisherige Tätigkeit ein ungünstiges Licht warf. Und so waren auch die Protokolle aus Láskas Verhören des Architekten Modráček ad acta gelegt worden und im Gegenteil die Tatsache in den Vordergrund getreten, dass Modráček denLöwenanteil am Bau sozialistischer Wohnhäuser in Brünn hatte. Diese Privatreise nach Wien (unter dem Deckmantel „Der Genosse Architekt wird in Wien seine Aufmerksamkeit dem Nachkriegswohnungsbau widmen“) in einer Zeit, in der sie dort nur sorgfältig ausgewählte Exkursionen hin ließen und immer in Begleitung von Bütteln und Aufsehern, war etwas so Unübliches, dass es zumindest davon zeugte, dass all seine Sünden getilgt waren. Und als ob schlagartig auch auf die Causa seiner Schwester vergessen worden wäre, wurde ihm doch eine so außergewöhnliche Gunst zuteil, auch wenn ihm zugleich klar war, dass das bestimmt nicht umsonst sein würde und der Partei-und Stasi-Klerus nach seiner Rückkehr aus Wien etwas mehr als bloß eifrigen Götzendienst erwarten würde. Aber, liebe Partei-Erzbischöfe und Stasi-Kardinäle, meine Rückfahrkarte für den Zug Brünn–Wien–Brünn wird verfallen, ehe ich es schaffe, meine Seele an euch zu verlieren … So wenigstens hatte Modráček sich das zusammenspekuliert.
Am frühen Morgen wartete Pater Klenovský schon vereinbarungsgemäß, und sie beeilten sich gemeinsam, weil sich die Stimmung in der „unterirdischen Stadt“ zugespitzt hatte und das Flämmchen schon auf der Zündschnur lief. So ist das immer – wagt der Erzähler zu behaupten –, wenn nach einer langen Periode der Bewegungslosigkeit das Eis aufbricht. Alle wussten zwar, dass sie schon bald von dort verschwinden würden, aber die bisher einbetonierte Resignation konnte über Nacht in explosive Ungeduld umschlagen.
Pater Klenovský, der körperlich doch fitter war (drei Jahre Zwangsarbeit im Bergwerk), nahm somit, diesem den Rücken zugewandt, den Sarg von vorn, so sind nämlich immer, wie wir wissen, nicht nur Särge, sondern auch Schränke schlechter zu tragen. Und als sie ihn aus dem Kühlraum (aus der „Eistasche“, die ihnen sonst als große Lebensmitteltiefkühltruhe gedient hatte) hinaustrugen, sah Modráček, wie sich die kleine Schar vor dem Sarg öffnete, und spürte, wie sie sich hinter ihm, hinter seinem Rücken, wieder schloss. Bis zu dem Zeitpunkt war er noch nie in einer so gefährlichen Situation gewesen, mit dem Rücken zu ihnen und wehrlos. Er hatte bis jetzt immer, wenn er unter ihnen weilte, darauf geachtet, dass er schön Rückendeckung hatte und jedweder unliebsamen Überraschung trotzen konnte. Aber hätte sich jetzt jemand von hinten auf ihn gestürzt, wäre das ein Signal gewesen für die Übrigen: Sie würden ihn niederschlagen, der Sarg würde zur Seite kippen, womöglich sogar aufgehen, aber darauf würde kein Mensch achten, ebenso wenig wie auf Pater Klenovský, der versuchen würde, sie davon zu überzeugen, dass es doch unnötig sei, da sie in zwei, drei Tagen bereits alle in Freiheit sein würden, doch da würde Modráček schon unter einer Traube von Körpern liegen, und alle würden versuchen, in seine Taschen zu langen, um sich der Schlüssel vom Ausgang zu bemächtigen. Ja, all das hätte ohne Weiteres passieren können, und Modráček spürte auch ein Kribbeln am Rücken, als ob sie gleich schon über ihn herfallen würden. Aber irgendwie wusste er dabei zugleich, dass das nicht passieren, dass
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