Das Versprechen des Architekten
sehr traute. Es ist höchst eigenartig, wie sogar solch ganz kleine Gemeinschaften (denn, bitte, was ist das schon, einundzwanzig Menschen!) nach einiger Zeit die Struktur von weitaus größeren Gefügen übernehmen. Die Menschen müssen so etwas wie ein „Gesellschaftsgen“ in sich tragen, das sie dazu bringt, bestimmte Rollen anzunehmen und dadurch in Einklang mit den anderen die Gesellschaft immer zu einer statistisch identischen Struktur zu modellieren. Am deutlichsten ist das gerade und begreiflicherweise in geschlossenen Gruppen, die ich nicht einmal Gemeinschaften zu nennen wage. Dort tritt diese Struktur am deutlichsten zutage. Dort kannst du sie nicht übersehen. Und das ist der Fall bei Modráčeks unterirdischer Insel.
Der erste, schwere Tropfen klatschte auf den Tisch und zerplatzte in alle Richtungen. Der Kellner lief gleich los, um die Sonnenschirme über den Tischen aufzuspannen. Der Regen aber verzog sich augenblicklich wieder. Doch Petra und Luděk hatten inzwischen schon bezahlt, waren aufgestanden und nach Hause geeilt.
IN EINEM LANGSAMEN AUFZUG
In dem Mietshaus, in dem Luděk wohnt, gibt es den wohl langsamsten Aufzug der Welt. Vielleicht hat deshalb der nunmehrige Besitzer des restituierten Gebäudes einen großen Spiegel in ihm anbringen lassen. Die Damen können sich dort, während der Lift träge dahinschwebt,ihrem Äußeren widmen. Aber Luděk nutzte die extrem langsame Fahrt dazu, die Skizze von Architekt Modráček noch mit ein paar Strichen zu vervollständigen:
Das Verhalten des Herrn Architekten mag uns heute recht absonderlich vorkommen. Etwas so Absurdes zu versprechen und dieses Versprechen dann sogar durchzuziehen!
Es ist halt eine absurde Zeit gewesen, meint Petra, und deswegen haben sich auch die Menschen absurd verhalten, oder?
Das auf jeden Fall. Aber es hat dabei zugleich noch etwas anderes eine Rolle gespielt. Eine bekannte Sache, Kriege bringen immer eine Beschleunigung des technischen Fortschritts mit sich. Welchem Grund, glaubst du, verdanken wir die so überstürzte Entwicklung der Informationstechnologien, hm? Der Krieg mit dem Terrorismus ist ganz anders als alle bisherigen Kriege, hier sind gerade Informationen die wichtigsten Waffen. Aber das gleiche Übel wie Kriege stellen auch totalitäre Regime dar. Somit darf es uns nicht überraschen, wenn auch sie etwas Positives mit sich bringen. Dass unter totalitären Regimen der destruktive Druck in den Menschen – klarerweise nur innerhalb kleiner Gruppen, bei Outsidern, Sonderlingen und Gefangenen in Arbeitslagern – eine gewaltige ethische Potenz mobilisiert, von der wir hier bei uns dann in den Sechzigerjahren ja auch zu leben begannen. Die Fünfzigerjahre waren aus heutiger Sicht bei Weitem geistiger als die Gegenwart, weil man sich nämlich, um seine Integrität erhalten zu können, auf etwas Inneres fixieren musste. Und in diesem Sinne sind die Fünfzigerjahredie Wiedererwecker der Ethik, sie haben eine Intensivierung und Ausprägung des Moralbewusstseins bewirkt, selbstverständlich nur bei dem Häufchen, das man das Salz der Erde nennt, aber wenn dann der Druck einer so destruktiven Maschinerie langsam nachlässt, beginnen sich diese befreienden Ideen allmählich zu verwirklichen und erfassen auch die Besseren unter jenen, die bisher dem Regime gedient haben.
Willst du etwa sagen, dass die Fünfzigerjahre ein magisches Heilmittel für uns gewesen sind?
Das allerdings ist dasselbe, wie wenn ich behaupten wollte, Kriege würden sich für die Menschheit jenes erwähnten technischen Fortschritts wegen rentieren. Beträchtlich ist der von totalitären Diktaturen ausgelöste Nutzen ja schon: Sobald sich der totalitäre Druck gelockert hatte, begannen bei uns schon spontan die ersten Signale einer bürgerlichen Gesellschaft zutage zu treten, die Kunst trieb fantastische Blüten und die Literatur erklomm Höhen, die sie später nie wieder erreicht hat. Aber das ist ein auf solch entsetzliche Weise bezahlter Nutzen, dass man ihn kaum als solchen bezeichnen kann. Andererseits wiederum – unser Volk braucht wenigstens von Zeit zu Zeit diesen totalitären Druck wie ein Schwein das Kraulen, es braucht seine Märtyrer und Helden, sonst zerfließt und verschlammt es bald hoffnungslos, wie wir es heute sehen, es verwandelt sich in einen Haufen Scheiße.
Soll ich das so verstehen, dass Modráček dieser Märtyrer und Held gewesen ist?
Luděk hob mit gespieltem Entsetzen die Hand: um Gottes willen, alles, nur das nicht!
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