Das Versprechen Des Himmels
Fetzen zu reißen, als ihm Leben einzuhauchen.«
»Das stammt aus Die Wahl der Magier, nicht wahr?« fragte Sashana.
»Ja.« Feltheryn lächelte. »Als Demetus erkennt, daß selbst ein Kind töten kann, aber daß er, der größte aller Magier, den Toten kein Leben zu geben vermag, kein wahres Leben. Danach verläßt er den Pfad des Kriegers.«
Sashana seufzte. »Ich würde so gern die Retifa spielen!«
Glisselrands Augenbrauen schossen in die Höhe, und einen Augenblick lang fragte sich Feltheryn, ob die Truppe heute abend noch bis zum zweiten Akt kommen würde. Retifa war eine von Glisselrands Lieblingsrollen.
»Natürlich«, fuhr Sashana fort, »bräuchte ich etwa dreißig Jahre Bühnenerfahrung, bevor ich mich an die Rolle heranwagen würde. Und vielleicht hätte ich selbst dann nicht das nötige Talent dazu. Es bedarf schon einer wirklich großen Schauspielerin wie Euch, Glisselrand, um eine solche Aufgabe zu übernehmen. Habt Ihr die Rolle schon einmal gespielt?«
Feltheryn entspannte sich, überzeugt, daß der innere Friede wiederhergestellt war. Und dann wurde es auch schon Zeit für den zweiten Vorhang.
Am Ende der Vorstellung war das gesamte Ensemble voller überschwenglicher Begeisterung, und als sie die letzte Verbeugung hinter sich gebracht hatten, war ihnen vor gegenseitigen Glückwünschen schwindlig. Alle waren sich darin einig, daß in Freistatt noch nie so viel Gelächter geherrscht hatte, so viel unverfälschte gute Laune. Sie eilten gemeinsam in die Garderobe, nahmen vor dem Tisch Platz, hinter sich Blumenkübel voller Blumen und Topfpalmen, und schon bald wimmelte der Raum von Menschen, die ihnen gratulierten.
Zuerst erschienen der Prinz und die Beysa, dann Molin Fackelhalter und mehrere Adelsfamilien, denen einige Aspekte der Produktion zu verdanken waren. Es war ein Schock für Feltheryn, als er aufsah und eine die Tür ausfüllende taubenmistgrüne Masse erblickte, aber er bewahrte Haltung, als Vomistritus auf ihn zu watschelte und jeden einzelnen beglückwünschte.
»Ich habe das Stück noch nie so gut gespielt gesehen!« rief der Kritiker mit einer lauten Baritonstimme. »Diese Finesse! Dieser Stil! So viel geschmackvoller als die kitschige Tragödie, die Ihr beim letzten Mal aufgeführt habt! Meinen Glückwunsch! Ihr könnt versichert sein, daß meine Wandzeitungen morgen zu Euren Gunsten ausfallen werden. Ihr, Madame Glisselrand, wart superb! Ich hätte fast geweint, als Ihr über die Untreue des Grafen nachgegrübelt habt. Und Ihr, Meister Feltheryn, wart ein solch meisterhafter Possenreißer; wie habt ihr das nur fertiggebracht, sie in der letzten Szene auf einem Knie um Verzeihung zu bitten? Man sollte glauben, ein Mann in Eurem Alter hätte Schwierigkeiten mit derartigen Verrenkungen. Ah, aber mein größtes Lob gebührt Euch, Lady Sashana! Euer Gang! Euer Lied! Eure verliebte Eleganz! Wie könnte irgend jemand Eurem Flehen widerstehen? Wirklich, ich muß zugeben, ich hatte den Eindruck, die Gräfin hätte ein Herz aus Stein, als Ihr Euer Anliegen vorgetragen habt! Und wenn ich dieses Gefühl hatte, dann seid versichert, muß auch Euer Publikum das gleiche gefühlt haben! Denn ist das nicht die Aufgabe eines Kritikers? Das gesamte Publikum zu ersetzen? Zu versuchen, das Stück zu erfühlen, nicht nur so, wie er es allein empfindet, sondern so, wie es alle und jeder einzelne empfinden? Das unterscheidet sich gar nicht so sehr von der Aufgabe des Regisseurs, nicht wahr, Meister Feltheryn? Nur daß Ihr versucht, vor der Aufführung das Publikum zu ersetzen, während ich versuche, das zu tun, nachdem Ihr das Stück aufgeführt habt. Zu sehen, ob das, was Ihr gesehen habt, das gleiche ist, was sie sehen. Seht Ihr? Sehen! Gesehen haben!«
Und so ging es weiter, viel länger, als es für einen Mann schicklich war, der am Anfang einer langen Schlange stand, und in einem bemerkenswerten Kontrast zu dem Tonfall, mit dem er die Truppe bisher bedacht hatte. Als er schließlich verschwunden war und auch die restlichen Gratulanten ihre Glückwünsche abgestattet hatten und gegangen waren, waren alle erschöpft. Sie begaben sich in die Küche, wo Lempchin kalte Teigtaschen aufgetischt hatte, und nachdem sie noch einmal den Triumph des Abends genossen und wieder die Kraft getankt hatten, die die Schauspielerei gekostet hatte, gingen sie alle zu Bett, und jeder fragte sich im stillen, ob vielleicht die schwache Magie des Theaterstücks irgendeine Veränderung in Vomistritus bewirkt hatte.
Der
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