Das Versteck
ich glaube, daß alles etwas leichter sein wird, wenn Sie mich Ihre Hand halten lassen.«
Sie schwieg.
»Tun Sie mir den Gefallen«, bat er.
Die Frau glaubte, daß ihr Mann tot war, und es lag Jonas fern, ihre Qual verlängern zu wollen, indem er ihr die Nachricht von der Auferweckung lange vorenthielt. Er wußte aber aus Erfahrung, daß gute Nachrichten dieser Art genauso schockierend sein konnten wie schlechte; sie mußten behutsam und mit Einfühlungsvermögen mitgeteilt werden. Die Frau hatte bei der Einlieferung ins Krankenhaus leicht deliriert, hauptsächlich infolge Unterkühlung und Schock, aber dieser Zustand war mit Hilfe von Wärme und Medikamenten schnell behoben worden. Seit einigen Stunden war sie wieder im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte, lange genug, um den Tod ihres Mannes richtig zu begreifen und zu beginnen, sich mit dem Verlust auseinanderzusetzen. Obwohl sie ihn tief betrauerte und noch weit davon entfernt war, ihre Witwenschaft zu akzeptieren, hatte sie inzwischen in dem emotionalen Abgrund, in den sie gestürzt war, einen unsicheren Halt gefunden, einen schmalen Felsvorsprung, ein labiles Gleichgewicht – und von dieser Kante würde er sie nun wieder hinabstoßen.
Vielleicht hätte er es ihr aber trotzdem direkter gesagt, wenn er eine eindeutig gute Nachricht gehabt hätte. Unglückseligerweise konnte er ihr aber nicht versprechen, daß ihr Mann wieder ganz er selbst sein würde, nicht gezeichnet von diesem Ereignis, daß er imstande sein würde, sein bisheriges Leben ohne irgendwelche Beeinträchtigungen wieder aufzunehmen. Stunden- oder auch tagelange Untersuchungen und Tests würden erforderlich sein, bevor man eine gültige Aussage über die Wahrscheinlichkeit einer totalen Genesung machen konnte. Danach könnten Wochen oder Monate physischer Behandlung und Beschäftigungstherapie vor ihm liegen, und das alles ohne jede Erfolgsgarantie.
Jonas wartete noch immer auf ihre Hand. Schließlich streckte sie sie ihm mißtrauisch entgegen.
So zartfühlend wie nur möglich weihte er sie in groben Zügen in die Grundlagen der Reanimationsmedizin ein. Als sie zu begreifen begann, warum er sie über ein so esoterisches Thema informierte, umklammerte sie seine Hand plötzlich mit aller Kraft.
16
In Zimmer 518 fiel Hatch in ein Meer böser Träume. Im Grunde waren es nur zusammenhanglose Bilder, die sich vermischten, denen aber sogar jener unlogische Handlungsablauf fehlte, der Alpträumen normalerweise eigen ist. Windgepeitschter Schnee. Ein Riesenrad, manchmal in vollem Lichterglanz, manchmal dunkel und zerbrochen und unheimlich in regnerischer Nacht. Eine Baumgruppe, knorrig und schwarz, vom Winter kahlgepeitscht. Ein Biertransporter quer auf schneebedecktem Highway. Ein Tunnel mit Betonboden, der in eine totale Finsternis hinabführte, zu etwas Unbekanntem, das ihn mit unvorstellbarem Entsetzen erfüllte. Sein krebskranker Sohn Jimmy, der im Sterben lag, fahlgelb im Gesicht. Wasser, kalt und tief, undurchsichtig wie Tinte, Wasser auf allen Seiten, ausweglos. Eine nackte Frau, den Kopf nach hinten gedreht, mit einem Kruzifix in den Händen …
Am Rande der Traumszenen war er sich wiederholt einer gesichtslosen und mysteriösen Gestalt bewußt, ganz in Schwarz wie der erbarmungslose Schnitter, von den umherhuschenden Schatten kaum zu unterscheiden. Dann wieder gehörte der Schnitter nicht zur Szenerie, sondern diese wurde aus seinem Blickwinkel heraus beobachtet, so als sähe Hatch mit den Augen eines anderen – mit Augen, die die Welt mit der mitleidlosen, hungrigen, nur den praktischen Vorteil berechnenden Einstellung einer Friedhofsratte betrachteten.
Eine Zeitlang hatte der Traum dann doch so etwas wie eine Handlung: Hatch sah sich einen Bahnsteig entlangrennen. Er versuchte verzweifelt, einen Zug einzuholen, der sich langsam in Bewegung setzte. Hinter einem Zugfenster sah er Jimmy, hohlwangig und mit tief eingesunkenen Augen, von seiner schweren Krankheit gezeichnet, nur mit einem Krankenhaushemd bekleidet. Der Junge blickte Hatch traurig an, hob eine seiner kleinen Hände und winkte zum Abschied: Lebewohl, Lebewohl, Lebewohl. Hatch wollte nach dem Türgriff greifen und auf die Stufen am Ende von Jimmys Wagen aufspringen, aber der Zug wurde schneller, Hatch blieb immer weiter zurück, die Tür entfernte sich. Jimmys bleiches, schmales Gesicht verschwamm und verschwand schließlich ganz, als der Wagen in das schreckliche Nichts versank, das sich hinter dem Bahnsteig auftat, in eine
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