Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Versteck

Das Versteck

Titel: Das Versteck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
Vom Netzwerk:
und voll gespenstischer Schatten. Es war auch sehr still. Das Audio-Signal am EKG war ausgeschaltet worden, so daß das endlose, rhythmisch bewegte Licht sich unhörbar über den Bildschirm schlängelte. Nur der Wind heulte leise vor dem Fenster, und gelegentlich klopfte Regen gegen die Scheibe.
    Jonas trat ans Fußende des Bettes und blickte auf Harrison hinab. Obwohl er das Leben dieses Mannes gerettet hatte, wußte er sehr wenig über ihn. Ein Meter siebenundsiebzig groß, hundertsechzig Pfund schwer. Braunes Haar, braune Augen. Ausgezeichnete körperliche Verfassung.
    Aber das waren nur Äußerlichkeiten. Wie sah es in seinem Innern aus? War Hatchford Benjamin Harrison ein guter Mensch? Ehrlich? Vertrauenswürdig? Ein treuer Ehemann? War er weitgehend frei von Neid und Gier, konnte er verzeihen und Mitleid empfinden, kannte er den Unterschied zwischen Recht und Unrecht?
    Hatte er ein gütiges Herz?
    Liebte er?
    In der Hitze einer Wiederbelebungsprozedur, wenn jede Sekunde zählte und in viel zu kurzer Zeit viel zuviel getan werden mußte, verlor Jonas nie einen Gedanken an das zentrale ethische Problem, vor dem jeder Arzt stand, der dem Tod ein Opfer zu entreißen versuchte, denn solche Überlegungen hätten sich nachteilig auf sein Urteilsvermögen auswirken können. Hinterher war noch Zeit genug für Zweifel, für Fragen … Obwohl ein Arzt dazu berufen war, Leben zu retten, und obwohl ihn auch der hypokratische Eid dazu verpflichtete, blieb die Frage, ob jedes Leben es wert war, gerettet zu werden? War es nicht klüger und ethisch vertretbarer, einen bösen Menschen, den der Tod dahingerafft hatte, auch tot zu lassen?
    Falls Harrison ein schlechter Mensch war, wäre Jonas Nyebern mitverantwortlich für die bösen Taten des Mannes nach dessen Entlassung aus dem Krankenhaus. Der Schmerz, den Harrison anderen zufügte, würde in gewisser Weise auch Nyeberns Seele beflecken.
    Glücklicherweise schien das diesmal nur eine hypothetische Frage zu sein. Harrison war allem Anschein nach ein rechtschaffener Bürger – ein angesehener Antiquitätenhändler, wie man ihm gesagt hatte, und er war mit einer recht bekannten Malerin verheiratet, deren Name auch Jonas ein Begriff war. Eine gute Künstlerin mußte sensibel sein und die Welt klarer sehen können als die meisten anderen Menschen. War es nicht so? Wenn sie mit einem schlechten Mann verheiratet wäre, wüßte sie das, und dann würde sie nicht mit ihm verheiratet bleiben. Diesmal gab es allen Grund zu glauben, daß ein Leben gerettet worden war, das auch wirklich gerettet werden sollte .
    Jonas wünschte nur, sein Handeln wäre immer so unzweifelhaft richtig gewesen.
    Er wandte sich vom Bett ab und trat ans Fenster. Tief unter ihm lag der fast leere Parkplatz. Die Pfützen, in denen Regentropfen tanzten, schienen zu kochen, so als würde ein unterirdisches Feuer den Asphalt verzehren.
    Er konnte die Stelle ausmachen, wo Karis Auto geparkt gewesen war, und dort starrte er eine lange Zeit hin. Er bewunderte Kari sehr. Er fand sie auch attraktiv. Manchmal träumte er davon, mit ihr zusammen zu sein, und es war ein überraschend angenehmer Traum. Er gestand sich auch ein, daß er sie mitunter begehrte, und der Gedanke, daß auch sie ihn begehren könnte, schmeichelte ihm. Aber er brauchte sie nicht. Er brauchte nichts als seine Arbeit, die Befriedigung, gelegentlich den Tod zu besiegen, und …
    »Etwas … ist … dort … draußen …«
    Das erste Wort riß Jonas aus seinen Gedanken, aber die Stimme war so dünn und leise, daß er nicht wußte, woher sie kam. Er drehte sich um und blickte zur offenen Tür hinüber, in der Annahme, daß die Stimme vom Korridor gekommen war, und erst beim dritten Wort begriff er, daß es Harrison gewesen war, der gesprochen hatte.
    Der Patient hatte den Kopf Jonas zugewandt, aber seine Augen waren auf das Fenster gerichtet.
    Jonas trat rasch neben das Bett, warf einen Blick auf das EKG und sah, daß Harrisons Herz schnell, aber Gott sei Dank regelmäßig schlug.
    »Etwas ist … dort draußen«, wiederholte Harrison.
    Seine Augen waren nicht auf das Fenster gerichtet, sondern auf irgendeinen Punkt draußen in der stürmischen Nacht.
    »Es ist nur der Regen«, versicherte Jonas.
    »Nein.«
    »Nur ein bißchen Winterregen.«
    »Etwas Böses«, flüsterte Harrison.
    Eilige Schritte hallten durch den Korridor, und eine junge Krankenschwester stürzte durch die offene Tür in den fast dunklen Raum. Sie hieß Ramona Perez, und Jonas wußte,

Weitere Kostenlose Bücher