Das vertauschte Gesicht
Wahnsinn. Früher hatte er es nicht verstanden, aber jetzt begriff er, dass alles, was gewesen war... es war wahnsinnig und sinnlos, und er dachte, Papa kann verflixt noch mal mit seinem Geld machen, was er will, wenn er nur lebt.
Er folgte den Zimmernummern, 1105-06-07-08... Die Tür stand offen und gab den Blick frei auf einen kleinen Vorraum und ein Zimmer. Durch das Fenster am Ende des Raumes sah er einen Schotterhof. Das Licht da draußen war sehr grell. Vom Hof war kein Laut zu hören. Als Winter das Zimmer betrat, nahm er den Geruch von Chlor und etwas wahr, das Schmierseife sein mochte. Alles war glänzend gewienert. Die Wände hatten einen Stich ins Gelbe. Der Fußboden war aus Stein. Rechts an der Decke hing ein Fernsehapparat. Links standen zwei Betten, das eine war leer. In dem anderen lag eine Gestalt, die an Schläuche und Glasflaschen rund um das Bett angeschlossen war. Auf einem Stuhl daneben saß eine ältere Frau, seine Mutter.
Sie hatte ihn nicht kommen hören, und als sie ihn bemerkte und den Kopf drehte, zuckte sie zusammen, stand sofort auf und kam ihm entgegen.
»Erik«, sagte sie. Er sah Spuren von Tränen in ihrem schmalen, stark sonnengebräunten Gesicht. Als er sie in den Armen hielt, war sie wie gewichtslos, als schwebe sie mit ihren dünnen Armen und Beinen in der Luft.
»Jetzt bin ich da«, sagte er und schaute über ihre Schulter zu seinem Vater.
Bengt Winter lag mit seitwärts geneigtem Kopf und geschlossenen Augen gegen Kissen gelehnt da. Sein Gesicht war grau, als ob die Sonnenbräune von der Krankheit in den Körper gesogen worden wäre.
»Wie geht es?«, fragte Winter und nickte zum Bett. »Wie geht es Papa?«
»Jetzt schläft er. Er hat starke Tabletten bekommen, damit er ausruhen und still liegen kann. Und noch irgendwas anderes. Aber ich glaube, sie bringen ihn zurück auf die Intensivstation.«
»Dann hätten sie ihn doch nicht erst hierher verlegt?«
»Ich weiß nicht, Erik.« Sie schluchzte an seiner Schulter. Er hielt sie immer noch im Arm. »Ich weiß überhaupt nichts mehr.«
»Aber war es denn kein Infarkt?«
»Doch. Es ist sehr ernst, sagt Doktor Alcorta.«
»Ist er jetzt da?«
»Ich glaub nicht. Wir können ja mal fragen. Aber ich rede morgen Vormittag mit ihm.« Sie schaute zum Bett, als ob sie jetzt zu ihrem Mann spräche. »Wir haben eine n Termin vereinbart.«
Winter ließ sie los und ging zum Bett. Das Gesicht des Vaters war ein wenig in die Kissen gedrückt, die ehemals scharfen Züge waren milde und halb ausradiert, wie von einer Hand ausgeglichen. Winter sah seinen Vater an und sah sich selbst in ihm. Hier geht es auch um mein Leben, dachte er. Uns trennen nur 25 Jahre, und das ist nichts. Nichts.
Bengt Winter atmete, und ein Faden Speichel zog sich von seinem Mund übers Kinn zum Hals hinunter, der dunkel in all dem Weißen leuchtete. Winter wischte den Speichel mit der Hand weg. Das Kinn seines Vaters war rau von den Bartstoppeln, kalt. Die Haare standen ihm vom Kopf ab. Unter den Augen und um den Mund hatte er blaue Flecken, und die Augenlider waren von Adern durchzogen. In seiner Brust rasselte es. Er ist ein Sterbender, dachte Winter. Darum haben sie ihn verlegt. Sie konnten nichts mehr für ihn tun.
Er schaute aus dem Fenster, sah Palmen und Pinien hinter dem Schotterplatz und dem Parkplatz. Hinter den Bäumen erhob sich die Landschaft, braune hügelige Felder, ein weißes Dorf. Im Hintergrund ein Bergmassiv mit einem Gipfel, der fast die dünnen Wolken berührte. Den Blick auf den Berggipfel geheftet, blieb er stehen.
»Denselben Berg sehen wir von zu Hause«, sagte seine Mutter, die sich neben ihn gestellt hatte. »Wie?« Er hatte ihr nicht zugehört. »Was hast du gesagt?«
»Wenn er aus dem Fenster schaut, sieht er den Berggipfel auf der Sierra Bianca, und das ist derselbe, den er von unserem Wohnzimmerfenster aus sieht«, antwortete seine Mutter. »Aber natürlich aus einer anderen Richtung.«
»Das ist bestimmt gut.«
»Es... ist ein gutes Gefühl.«
»Wann wird er zu sich kommen?«
»Das dauert noch eine Weile«, sagte sie und sah auf ihren Mann hinunter und dann wieder hinauf zu ihrem Sohn. »Hast du Hunger? Durst?«
»Vielleicht was zu trinken.«
»Wir können runter in die Cafeteria gehen«, sagte sie. »Da haben sie fast alles.«
Aber wohl kaum einen Gin Tonic, dachte Winter, und eine Sekunde später schämte er sich. Wenn sie vorher einen Drink zu viel genommen hatte, dann war sie jetzt jedenfalls wieder
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