Das verwunschene Haus
die Tür des Pubs auf, und sofort umfängt ihn ein Gefühl intensiver Wärme. Er macht ein paar Schritte in den verqualmten Raum hinein. Er befindet sich tatsächlich am Hafen und noch dazu in einer richtigen Kaschemme. Angetrunkene Matrosen stehen um ein verstimmt klingendes Klavier herum und singen lauthals alte Balladen, während einige nicht sehr vertrauenswürdig aussehende Gestalten in kleinen Grüppchen an den Tischen sitzen. Zweifellos hat er es hier mit allerlei Gesindel zu tun, aber was kann ihm das schon ausmachen?
Er durchquert den Raum und läßt sich in einen Sessel fallen. Eine Weile lang ist er zu sehr damit beschäftigt, wieder zu sich zu kommen, als daß er auf seine Umgebung achten würde. Da reißt ihn eine spöttische Stimme aus seiner Erstarrung: »Nun, feiner Herr, sind wir in schlechte Gesellschaft geraten? Das war aber ziemlich unvorsichtig!«
Kevin O'Neil hebt den Kopf. Er hatte nicht bemerkt, daß an diesem Tisch bereits jemand saß. Es handelt sich um einen etwa dreißigjährigen Mann mit dunklem, eng anliegendem Haar. Sein Blick ist stechend, obwohl er ein breites Lächeln aufgesetzt hat. Über dem kragenlosen Hemd trägt er eine Weste von ausgezeichnetem Schnitt, und man errät unschwer, daß er sie nicht selbst gekauft hat...
Kevin antwortet nicht. Er betrachtet das Gesicht seines Gegenübers. Bestimmt ist er ein Dieb, vielleicht sogar ein Mörder, doch seltsamerweise macht ihm das keine Angst. Im Gegenteil, die arrogante Selbstsicherheit, die von dem Mann ausgeht, beruhigt ihn eher.
»Also was ist, feiner Herr? Stimmt etwas nicht? Sie müssen sich wohl erst mal erholen... Man könnte glauben. Sie hätten den Teufel gesehen!«
»Sie ahnen nicht, wie recht Sie damit haben«, erwidert Kevin O’Neil mit erstickter Stimme.
Kevins Tischgenosse zieht die Stirn in Falten.
»Der Teufel! Das klingt nach einer tollen Geschichte! Ich liebe solche Geschichten, Sie müssen sie mir erzählen! Übrigens, ich heiße Jacky Barrow. Das sagt Ihnen wohl nichts, oder?«
Kevin antwortet nicht.
»Oh, ich habe ganz vergessen, daß man mich bei den Milords nicht kennt. Aber hier am Hafen, da kennt man mich, das versichere ich Ihnen! Und Sie, wie heißen Sie?«
»Kevin O'Neil.«
»Und was ist Ihr Beruf, daß Sie sich so fein ausstaffieren können?«
»Ich bin Bankier.«
Zwei finster aussehende Burschen nähern sich O’Neil unauffällig, aber Barrow springt mit überraschender Behendigkeit vom Tisch auf.
»Kommt nicht in Frage! Laßt die Finger von meinem Freund Kevin!«
Leicht verwundert ziehen sich die beiden Ganoven zurück, wobei sie etwas vor sich hin grummeln.
Jacky Barrow klatscht in die Hände: »Bringt meinem Freund Kevin sofort etwas zu trinken!«
Ein paar Minuten später hat Kevin O’Neil sich wieder ein wenig gefaßt. Die zwei Schlucke Whisky, die er inzwischen getrunken hat, sind ihm gut bekommen.
»Also, Kevin, was ist mit der Geschichte?«
Kevin O'Neil betrachtet erneut sein Gegenüber. Soll er wirklich einem hergelaufenen Schurken, dem er zufällig begegnet ist, alles erzählen? Falls nicht, ist es jedoch womöglich bald zu spät...
»Es ist eine lange Geschichte.«
»Um so besser!«
O’Neil schweigt. Am anderen Ende des Raumes singen die Seeleute noch immer ihre Balladen. Jacky Barrow scheint aller Welt Furcht einzujagen, denn die Tische um sie herum sind leer. Kevin wirft einen Blick zur Eingangstür. Nein, sie öffnet sich nicht...
Er beginnt also zu erzählen: »Kennen Sie Rathcormack, im Süden?«
»Natürlich«, sagt Jacky nickend, »ich bin ein echter Ire.«
»Von dort stammt die Familie O’Neil ursprünglich. Was ich Ihnen berichte, hat sich vor zweihundert Jahren abgespielt, genau gesagt ist es sogar noch etwas länger her. Alles hat im Jahre 1715 begonnen, und zwar durch die Schuld von zwei meiner Vorfahren: Patrick und Jeremiah O'Neil. Die beiden waren Zwillinge.«
Kevin nimmt einen Schluck Whisky. Während er diese Geschichte wiederholt, die er längst auswendig kennt, kehren seine Lebensgeister zurück.
»Aber sie waren in einem Maße Zwillinge, wie Sie es sich nicht vorstellen können! Sie waren nicht zwei Brüder, sondern die zweifache Ausgabe ein- und desselben Menschen. Es war absolut unmöglich, sie auseinanderzuhalten. Ihre Mutter hatte jedem von ihnen ein andersfarbiges Bändchen ums Handgelenk geschlungen, aber sie machten sich einen Spaß daraus, die Bändchen zu vertauschen, so daß man nie wußte, wer Patrick und wer Jeremiah war.«
Jacky
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