Das verwunschene Haus
Barrow hört mit offenem Munde zu. Der junge Bandenchef - möglicherweise auch Mörder — ist unter dem Zauber dieser Erzählung für die Dauer eines Abends wieder zum staunenden Kind geworden.
»Das Drama hat sich zugetragen, als die beiden achtzehn Jahre alt wurden. Patrick und Jeremiah waren einander so sehr ähnlich, daß sie sogar dieselben Gefühle empfanden. Und natürlich verliebten sie sich zur selben Zeit in dasselbe junge Mädchen. Sie hieß Jessica und war die einzige Tochter einer sehr wohlhabenden Witwe der Stadt. Patrick machte ihr den Hof, aber wie sollte man wissen, ob es nicht doch der andere war? Jedenfalls dauerte es nicht lange, Jessicas Gunst zu erlangen.«
Wegen des Lärms im Pub rückt Jacky näher an seinen Tischgenossen heran.
»Kurz darauf wurde sie heimlich Zeugin einer Unterhaltung zwischen den beiden Brüdern, die nicht mehr den geringsten Zweifel ließ: Sie hatten ihre unglaubliche Ähnlichkeit ausgenutzt. weil sie sich das beträchtliche Vermögen des Mädchens teilen wollten. Und darüber lachten sie auch noch lauthals! Weinend suchte Jessica das Weite. Am nächsten Tag fand man ihren Leichnam im Fluß.«
Der Gauner lauscht dem Bericht mit großer Anteilnahme. »Das arme Mädchen!« ruft er aus.
»Leider ist das noch nicht alles. Jessicas Mutter konnte den Kummer und die Schande nicht ertragen. Sie hat daraufhin jegliche Nahrung verweigert, bis sie gestorben ist. Unmittelbar vor ihrem Tod hat sie sich in ihrem Bett aufgerichtet, und vor dem Geistlichen und allen übrigen Anwesenden hat sie geschrieen: >Ich verfluche die Familie O'Neil, und ich bitte Gott, den Allmächtigen, dafür zu sorgen, daß jedesmal, wenn der älteste Sohn dieser Familie seinem Doppelgänger begegnet, er das Ende des Jahres nicht mehr erlebt...<«
Jacky Barrow ist zusammengefahren.
»Und ist das so eingetroffen?«
»Ja. Die Zwillinge haben sich verheiratet. Ihre ältesten Söhne sind an einem Herzstillstand gestorben, beide fast im selben Alter, etwa mit fünfundvierzig Jahren. Und das ging immer so weiter: Alle ältesten Söhne der Familie O'Neil haben unter denselben Umständen den Tod gefunden.«
»Sind sie tatsächlich ihrem Doppelgänger begegnet?«
»Das weiß ich nicht... Ich weiß nur, wie es sich bei meinem Vater zugetragen hat, denn ich bin dabeigewesen. Es spielte sich auf einem Packboot ab, auf der Rückfahrt von New York. Ich war damals zwanzig, mein Vater fünfundvierzig Jahre alt. Es war gegen elf Uhr abends. Ich stand auf der Brücke. Da kam mein Vater auf mich zu. Vollkommen erschüttert sagte er zu mir: >Kevin, ich habe ihn gesehen!<. Dann verabschiedete er sich von mir und schloß sich in seiner Kabine ein. Ich blieb lange Zeit auf der Brücke, bis ich ihn plötzlich wiedersah. Ich blickte auf meine Uhr: Es war inzwischen zwei Uhr morgens. Der verhängnisbringende Tag war vorbei. Zum ersten Mal hatte sich der Fluch nicht erfüllt. Weinend vor Freude lief ich auf ihn zu. Er wandte sich zu mir um... Doch das war nicht mein Vater! Der Mann vor mir ähnelte ihm wie ein Bruder und war auch wie er gekleidet, aber es war nicht mein Vater!«
Kevin O’Neil leert sein Glas auf einen Zug.
»Ich rannte zur Kabine meines Vaters und fand ihn tot auf dem Bett liegen. Er war bereits kalt. Während der fünf Tage, die unsere Überfahrt dauerte, habe ich den Mann niemals wiedergesehen, ebenso wie ich ihn auch vor jener tragischen Nacht noch nie gesehen hatte. Er schien genau in jenem Moment erschienen zu sein, um sich danach in Luft aufzulösen.«
Jacky Barrow schlägt mit beiden Fäusten auf die Tischplatte. »Aber Sie wollen doch nicht etwa sagen, daß...«
»Doch. Als ich vorhin aus dem Theater kam, hat mich mein Doppelgänger am Ausgang erwartet. Der Mann, der da trotz des Schneetreibens reglos auf dem Gehsteig stand, hatte für mich gleich etwas Beunruhigendes an sich gehabt. Ich ging auf ihn zu, und als ich ihn aus der Nähe betrachten konnte, hatte ich mich gleichsam selbst gesehen wie in einem Spiegel. Ich rannte fort und bin schließlich hier hereingekommen...«
Der junge Ganove ist aufgestanden. Er zittert leicht.
»So wahr ich Jacky Barrow heiße«, ruft er, »das werde ich verhindern!«
Mit tonloser Stimme fragt Kevin: »Was wollen Sie denn tun?«
»Ich weiß nicht... irgend etwas...«
»In einem Monat werde ich so alt sein wie mein Vater, als er starb, und noch nie hat ein ältester Sohn der O’Neils das fünfundvierzigste Lebensjahr überschritten.«
Jacky Barrow setzt sich
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