Das verwunschene Haus
Unbehagen. Das Gesicht des Toten zeigt einen Ausdruck vollkommener Ruhe und wirkt sogar beinahe erleichtert.
Es ist verrückt, wie sehr er Kevin ähnelt! Noch viel mehr als vorhin...
Jacky unterdrückt ein Schaudern und macht sich daran, die Taschen seines Opfers zu durchwühlen. Man darf trotz allem den Sinn für die Realität nicht verlieren! Er greift nach der Geldbörse, die gut gefüllt zu sein scheint und läßt sie in seine Tasche gleiten. Er wird den Inhalt später untersuchen. Dann fährt er mit der Hand in die Weste des Mannes, und im nächsten Moment stößt er einen Schrei aus: »Nein, das ist doch nicht möglich!«
Was er in der Hand hält, ist eine sehr hübsche ziselierte Uhr mit einem halb in Gold, halb in Silber eingravierten Muster. Es ist Kevins Uhr...
Aber das würde ja bedeuten, daß er ihn getötet hat, ihn, Kevin!
Wie ein Wahnsinniger rast er zum Pub zurück. Er stürmt hinein und stößt die Umstehenden beiseite. Der Tisch, an dem Kevin gesessen hatte, ist leer.
Er stürzt auf die Bar zu und fährt den Wirt an: »Welcher der beiden ist als erster gegangen?«
»Du meinst die beiden feinen Herren?«
»Ja, die meine ich.«
»Seltsam, daß du mich danach fragst! Nachdem er bezahlt hat, ist derjenige, der an der Bar stand, zur Tür gegangen, doch dann ist er plötzlich zurückgekehrt und hat noch etwas zu trinken bestellt. Daraufhin ist derjenige, der am Tisch saß, aufgestanden und hat das Lokal verlassen.«
Jacky ist starr vor Entsetzen. »Aber warum hat Kevin das getan?« stammelt er vor sich hin. »Warum wollte er sterben? Warum wollte er, daß ich ihn töte?«
Ihm fällt auf, daß es im Pub ganz still geworden ist, und daß die übrigen Gäste langsam vor ihm zurückweichen. Da erst bemerkt er das blutige Messer in seiner rechten Hand. Er öffnet die linke Hand: Er trägt auch noch immer Kevins Taschenuhr bei sich. Sie zeigt eine Minute vor Mitternacht an... Jacky schleudert das Messer und die Uhr weit von sich und flieht wie von Furien gejagt in den Schneesturm hinaus.
Einer der Gäste aus dem Pub hat ihn angezeigt, und so wird Jacky Barrow anderntags wegen Mordes an Kevin O’Neil verhaftet. Sergeant O’Higgins bricht in lautes Gelächter aus, als Jacky ihm seine Version des Tathergangs erzählt.
»Das ist wirklich zu komisch! Also war es nicht er, den du umbringen wolltest, sondern ein Gespenst, das ihm ähnlich sah! Und all das willst du getan haben, um ihm einen Dienst zu erweisen! Aus Nächstenliebe! Sag mal, hältst du uns für solche Dummköpfe?«
»Aber ich schwöre es Ihnen. Das ist die Wahrheit! Sie brauchen nur die Familiengeschichte der O’Neils zu überprüfen.« Die Polizei von Dublin hat sich die Mühe nicht gemacht. Dieser skrupellose Mord an einem Bankier, der sich in die Niederungen des Hafenviertels verirrt hatte, war für sie klar wie Gebirgswasser.
Doch selbst, wenn die Polizei das getan hätte, wäre sie nicht fündig geworden. Kevin war der letzte Vertreter der Familie O’Neil. Sein jüngerer Bruder war fünfzehn Jahre zuvor im Krieg gefallen. Niemand hätte die Glaubwürdigkeit dieser Geschichte bestätigen können.
Jacky Barrow wurde zum Tode verurteilt und gehängt, nachdem er bis zuletzt seine Version aufrechterhalten hatte.
So wird man niemals erfahren, ob er das Opfer des unvorstellbarsten aller Abenteuer wurde oder ob er einfach nur eine besonders blühende Phantasie besaß!
Verhängnisvolle Neugier
Von außen betrachtet, das heißt, aus der Sicht ihrer Freunde, Berufskollegen und Nachbarn, verkörpert das Ehepaar Schneider geradezu das Musterbeispiel einer erfolgreichen Existenz.
Er, Thomas Schneider, hat mit seinen fünfunddreißig Jahren bereits eine Karriere als leitender Angesteller eines großen Automobilunternehmens hinter sich, und die vor ihm liegende Zukunft verheißt einen noch glanzvolleren Aufstieg.
Sie, die zweiunddreißigjährige Erika, ist nicht berufstätig. Sie widmet sich ausschließlich ihren häuslichen Pflichten, was im Frankfurt des Jahres 1978 eher selten vorkommt, selbst in gutbürgerlichen Kreisen. Doch dieser freiwillige Verzicht auf Erwerbstätigkeit wird allgemein als Zeichen von besonderer Harmonie zwischen den Eheleuten angesehen. Immerhin ist es ihr Recht, so zu leben, wie sie es für richtig halten, und wenn sie sich dabei wohl fühlen, um so besser. Dennoch gibt es da jemanden, der die Situation der beiden aus einem gänzlich anderen Blickwinkel betrachtet, und diese Person ist die erst
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