Das verwunschene Haus
sechsjährige Tochter des Ehepaars, die kleine Gretel.
Das Kind ist wach und frühreif, was ihm sicherlich eher schadet, denn es errät die ganze Wahrheit. Es spürt genau, daß sich die Eltern schon lange nicht mehr verstehen. Bei Tisch erlebt es immer wieder dieselben Diskussionen und Streitigkeiten. Die Eltern glauben, die Kleine begreife noch nicht, was da vorgeht, und werfen sich ungeniert alle möglichen häßlichen Wahrheiten an den Kopf.
»Ich habe es satt, den ganzen Tag zu Hause zu sitzen und mich um den Haushalt zu kümmern!«
»Du brauchst das ja nicht zu machen. Ich bezahle dir eine Haushälterin.«
»Natürlich, du bezahlst immer alles, denn du bist ja der einzige von uns beiden, der arbeitet. Und ich verlange nichts anderes, als ebenfalls berufstätig sein zu können! Aber das willst du ja nicht. Ich mache den Haushalt nur deshalb, weil ich mich dermaßen langweile, daß ich alles mögliche tun würde!«
»Und du langweilst mich mit deinen Phrasen!«
»Ich will wieder arbeiten. Bevor ich dich kennenlernte, war ich Journalistin. Ich bin sicher, die Zeitung würde mich wieder einstellen.«
»Kommt überhaupt nicht in Frage!«
O ja, die kleine Gretel begreift sehr gut. Sie begreift, daß ihre Mutter unglücklich ist, weil sie den ganzen Tag zu Hause bleiben muß, und daß dies die Schuld ihres Vaters ist. Daher versucht sie, die Mutter zu zerstreuen, wenn sie mit ihr zusammen ist; sie bittet sie, mit ihr zu spielen und ihr aus ihren Kinderbüchern vorzulesen. Doch während dieser Lesestunden entfährt Erika so mancher Seufzer.
Gretel denkt bei sich: >Mama ist unglücklich, weil sie nicht arbeiten darf...< Und sie macht sich innerlich Vorwürfe, daß es ihr nicht gelingen will, die Mutter auf andere Gedanken zu bringen.
Es ist der 27. März 1978. Wie so oft ist das Abendessen im Kreise der Familie sehr unerfreulich verlaufen. Gretel hat ihren Eltern schon zu Beginn der Mahlzeit angemerkt, daß das leidige Thema wieder auf den Tisch kommen würde. Nachdem die üblichen Argumente ausgetauscht worden sind, die Gretel inzwischen auswendig kennt, nimmt der Streit zwischen den Eltern diesmal jedoch sehr viel ernstere Formen an.
Noch nie hat die Kleine gesehen, daß ihr Vater im Gesicht derart rot geworden ist, noch nie hat sie diese zitternden Hände bei ihm gesehen und diese geschwollene Ader an seiner Stirn. Und noch nie hat sie ihre Mutter so bleich gesehen.
Als die Eltern sie auffordern, in ihr Zimmer zu gehen, ist Gretel äußerst beunruhigt. Sie verläßt das Eßzimmer, doch statt den Eltern zu gehorchen, bleibt sie hinter der Tür stehen, um zu lauschen.
Zitternd vernimmt sie Worte, deren Sinn sie nicht versteht und die viel schlimmer sein müssen als alles, was sie bisher von ihren Eltern gehört hat.
»Ja«, ruft Erika, »ich will in Zukunft getrennt schlafen!«
»Du bist meine Frau, und es ist deine Pflicht...«
»Ja, das paßt zu dir, von Pflicht zu reden! Im Zusammenleben mit dir habe ich nie etwas anderes kennengelernt als Pflichten!«
Nach einem Moment des Schweigens fügt Erika auf einmal hinzu: »Thomas, ich will mich scheiden lassen.«
Starr vor Schrecken hört das kleine Mädchen daraufhin Geräusche wie bei einer Verfolgungsjagd, dann scheint etwas Schweres zu Boden zu fallen, und plötzlich breitet sich eine lange Stille aus...
Trotz ihrer Furcht hält Gretel es schließlich nicht mehr aus und öffnet die Tür. Ihre Mutter liegt ausgestreckt am Boden. Ihr Vater kniet mit starrem Blick davor.
Gretel stürzt in den Flur, wo das Telefon steht. Sie wählt die Nummer der Polizei, die sie auf Wunsch der Eltern für den Notfall auswendig gelernt hat.
Mit ihrer Kinderstimme sagt sie: »Hallo, kommen Sie schnell! Papa hat Mama umgebracht!«
Sie gibt die Adresse an und hängt ein.
Wenige Minuten später versammelt sich etwa ein Dutzend Leute im Häuschen der Schneiders, das in einem gepflegten Vorort von Frankfurt liegt. Ein Kommissar und einige seiner Leute haben sich um den Ehemann geschart. Vergeblich bedrängen sie ihn mit Fragen. Thomas Schneider antwortet nicht. Er ist wie versteinert und zeigt keinerlei Reaktion. Gretel ist in ihr Zimmer geführt worden. Ein Polizeibeamter versucht ohne große Überzeugung, sie mit ihren Spielsachen abzulenken. Natürlich hat das kleine Mädchen nicht die geringste Lust zu spielen. Sie möchte wieder nach unten ins Eßzimmer gehen, und der Beamte muß sie mit Gewalt zurückhalten.
Dort unten, im Eßzimmer, findet jetzt nämlich ein
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