Das vierte Opfer - Roman
Es war überhaupt kein Polizeiangehöriger, über den sie in den nächsten Stunden nachdenken wollte. Ganz im Gegenteil. Da war dieser andere... der Henker. Er und sonst niemand.
Er ist es, den ich haben will.
Sie lachte bei dem Gedanken. Lachte und knipste das Licht mit einer Eile an, die ihr selbst verdächtig vorkam.
Sie hatte sich gerade erst an ihren Schreibtisch gesetzt, als das Telefon klingelte. Da saß sie mit einer Tasse russischem Tee und einem kleinen Lichtkegel, der nur das benötigte Oval über den Notizblocks erleuchtete.
Ihre Mutter, natürlich... nun ja, das Gespräch konnte sie ebensogut gleich hinter sich bringen. Dann wurde sie wenigstens später nicht mehr gestört.
Ob sie am Sonntag nach Hause kommen wollte? Papa würde sich so freuen. Er war schon die ganze Woche so niedergeschlagen, und die Ärzte haben gesagt... na ja, das könnten sie ja vielleicht dann besprechen. Was sie gerade mache? Arbeiten! Aber sie hatte doch wohl ihre Finger nicht in dieser schrecklichen Mordgeschichte, das war doch wohl eine Sache für die Männer? Oder gab es etwa keine Männer bei ihnen? Was war das nur für eine Stadt?
Nach zehn Minuten hatte sie das Gespräch beendet, und ihr schlechtes Gewissen rumorte in ihr wie ein eitriger Zahn. Sie schaute zum Fenster hinaus, starrte auf den letzten Rest des Sonnenuntergangs, der sein symbolisches Licht über den ganzen Himmel verteilte, und beschloß, jedenfalls am Sonntag abend für ein paar Stunden hinüberzufahren. Vielleicht konnte sie auch übernachten und dann den ersten Morgenzug zurück nehmen... ja, anders ließ es sich wohl nicht machen.
Sie zog den Stecker raus. Für alle Fälle. Es konnte ja auch sein, daß Janos plötzlich auf die Idee kam, bei ihr anzurufen, und mit dem schlechten Gewissen wollte sie sich nicht auch noch herumplagen, nicht an diesem Abend jedenfalls.
Der Henker.
Sie schlug die beiden Collegehefte auf und legte sie nebeneinander. Begann in dem linken zu lesen.
Heinz Eggers,
stand in der ersten Zeile, doppelt unterstrichen.
Geb. 23.4.1966 in Selstadt
Gest. 28.6.1998 in Kaalbringen
Das war unbestreitbar, klar. Danach folgte eine ganze Reihe von Informationen, Eltern und Geschwister. Schullaufbahn. Verschiedene Adressen. Diverse Frauennamen. Verschiedene Daten, an denen Eggers in diversen Institutionen eingeliefert und wieder entlassen worden war, zumeist Gefängnisse, die Daten der Verhandlungen und die Gerichtsurteile.
Zwei Kinder von verschiedenen Frauen. Das erste ein Mädchen, geboren am 2.8.1990 in Wodz. Die Mutter eine gewisse Kristine Lauger. Das andere, ein Junge, geboren am 23.12.1996, am Tag vor Weihnachten, hatte sie sich notiert – also noch nicht einmal zwei Jahre alt. Der Name der Mutter war Matilde Fuchs, Adresse und Aufenthaltsort unbekannt ... Sie widmete der Frau ein paar Sekunden und dachte daran, daß diese Frau ja eigentlich genau das erreicht hatte, was sie selbst gern gehabt hätte. Ein Kind ohne einen Vater – aber war das wirklich das, was sie anstrebte? Außerdem konnte es sich ja auch um eine drogensüchtige Prostituierte handeln, die ihren unerwünschten Balg schon vor langer Zeit anderen überlassen hatte, besser geeigneten Pflegeeltern. Ja, das war wohl die wahrscheinlichere Hypothese.
Und? Wo hatte sie ihre Überlegungen gestern beendet? Da war doch noch eine wichtige Frage gewesen, ganz zweifellos... Sie blätterte ein paar Seiten weiter. Da!
Was hatte Heinz Eggers auf diesem Hof zu suchen gehabt? Das war der Punkt! Warum befand sich diese windige Figur, dieser Unglücksrabe der Gesellschaft, in der Nacht zum 28. Juni 1998 um ein Uhr (oder noch später) in der Burgislaan 24?
Daß das eine gute Frage war, wußte sie, und auch wenn sie bisher noch keine Antwort auf sie gefunden hatte, drängten sich ihr doch einige Schlüsse auf, ohne daß sie die Logik allzusehr strapazieren mußte oder im üblichen Spekulationssumpf unterging. Und jeder andere hätte ebensogut darauf kommen können.
Erstens: Auch wenn Eggers bekanntermaßen ein Junkie war, konnte man doch wohl eine gewisse Rationalität in seinen Handlungen voraussetzen... er hatte an dem Abend keine größeren Mengen Gift in seinen Adern gehabt, er starb fast nüchtern und sauber (was, wie man als guter Christ hoffen konnte, ihm im Jenseits zugute geschrieben werden würde). Wie dem auch sei: Es war nicht davon auszugehen, daß Eggers sich nur zufällig in der Burgislaan befand. Er mußte dort etwas zu tun gehabt haben. Mitten in der
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