Das vierte Opfer - Roman
Nacht. Am 28. Juni. Allein.
Sie nippte an ihrem Tee.
Zweitens: Keiner von Eggers’ zwielichtigen Bekannten, und sie hatte so einige verhört, hatte die geringste Ahnung, worum sich das Ganze gehandelt haben könnte. Nicht einmal diese sogenannte Freundin, die in der betreffenden Nacht wie ein Stein geschlafen haben dürfte, nach dem Fusel, den sie am vorangegangenen Tag oder, besser gesagt, während der vorangegangenen vierundzwanzig Stunden zu sich genommen hatte. Das einzige, was ihnen allen einfiel, nachdem sie ihnen kräftig zugesetzt hatten, war, daß Heinz irgendeinen Tip bekommen haben mußte. Einen Hinweis. Informationen, daß jemand was zu verkaufen hatte... Stoff natürlich. Drogen irgendwelcher Art... Heroin oder Amphetamine oder ganz gewöhnliches Haschisch. Egal, was. Heinz nahm alles. Und was er nicht selbst einnahm, das verkaufte er an Rotzgören.
Drittens: Ergo. Schlußfolgerung: Der Henker hat den Treffpunkt ausgewählt. Eggers war das auserwählte Opfer und niemand sonst. Die Tat war genau geplant und vorbereitet. Nichts da mit einem Wahnsinnigen, Geisteskranken und ähnlichen Bezeichnungen, mit denen einige um sich warfen... Worum es einzig und allein ging, war Mord ersten Grades! Da war nichts mit aufbrausender Wut, gab es keine mildernden Umstände, ging es nicht um irgendwelche Junkies, die einem der ihren den Schädel einschlugen... Nein, ein Mord ersten Grades war das. Da konnte es keinen Zweifel geben, und auch nicht darüber,
was der Henker für ein Typ war – ein präziser, genau kalkulierender Verbrecher, der sich vollkommen klar darüber war, was er da tat. Der nichts dem Zufall zu überlassen schien und der ...
Der, viertens, ein Motiv hatte!
Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und trank einen großen Schluck.
Ein äußerst zielbewußter Mörder.
Sie wandte sich dem zweiten Block zu.
Ernst Leopold Simmel.
Hier waren die Aufzeichnungen spärlicher. Nur ein paar Seiten. Sie hatte einfach keine Lust gehabt, diese Schwemme von Informationen aufzuschreiben, die Kropke aus Einwohnermelderegister und anderen Amtsquellen herausgefischt hatte. Firmenregister, Konkurse, Scheinfirmenaffären, Aufträge, Steuersachen, Reisen und Gott weiß was... Schnell überflog sie ihre Notizen und ging dann zu der Fragestellung am Ende über, die sie gestern aufgekritzelt hatte, bevor sie ins Bett ging...
Die Kunst war es, die richtigen Fragen zu stellen, wie der alte Wundermaas, ihr Lieblingslehrer in Genschen, ihnen gar nicht oft genug hatte einschärfen können. »Umformulieren!« knurrte er immer ungeduldig und bohrte dabei seinen dunklen Blick in seine Schüler. »Die Antwort kann kleiner als eine Nadel in einem Heuhaufen sein. Also sorgt zumindest dafür, daß ihr im richtigen Heuhaufen sucht.«
Wie lauteten die Fragen zu Ernst Simmel? Die richtigen? Sie trank noch einen Schluck und fing an.
Warum war er am Dienstag abend unterwegs? Das wußte sie.
Warum ging er über den Fischmarkt? Das konnte man sich denken...
Wann nahm der Henker die Verfolgung auf? Vielleicht ein guter Ausgangspunkt? Wie sah die Antwort hierauf aus?
Schon oben bei der Blauen Barke? Mit größter Wahrscheinlichkeit, ja. Dann muß er ja durch die ganze Stadt hinter ihm hergeschlichen sein, ja, wie hätte er es sonst machen sollen?
Was bedeutete das?
Sie hob den Blick und schaute aus dem Fenster. Da unten lag die Stadt. Sie knipste die Schreibtischlampe aus, und plötzlich lag Kaalbringen im Licht da... die verstreute punktuelle Beleuchtung der Nacht, die erleuchteten Bereiche – Bungeskirche, Hoistraat, der Hauptmarkt und die Fassade des Rathauses, das Hochhaus hinten bei Dünningen... Fisherman’s Friend, ja, das mußte das Restaurant sein, das da in der Ferne hoch oben an den Klippen hing, es war ihr bisher nur nie aufgefallen. Hier war er entlanggegangen, der Mörder, den ganzen Weg von der Blauen Barke hinter seinem Opfer her in sicherem Abstand, und es mußte...
Es mußte Zeugen geben.
Das war ja wohl sonnenklar. Irgendwelche Leute mußten den Henker doch gesehen haben, wie er sich an den Häuserwänden die Lange Straße und die Hoistraat entlanggeschlichen hatte, wie er die Treppen hinuntergehuscht war, wie er den Fischmarkt überquert hatte... alles andere wäre äußerst unwahrscheinlich; wer immer er auch sein mochte, unsichtbar war er nicht. Und was bedeutete das?
Das war genauso sonnenklar: Morgen würde man die Tore öffnen, und Kommissar Jedermann würde ins Polizeirevier einfallen, und
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