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Das vierte Opfer - Roman

Das vierte Opfer - Roman

Titel: Das vierte Opfer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H kan Nesser
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Erinnerung zu wälzen. Sie versuchte, das Rad der Zeit zurückzudrehen, nur um ein paar Stunden, zurück zu der glücklichen Unwissenheit, zu den Stunden davor, der vollkommenen Normalität, der Straße, den Autos, den Scheinwerfern, die ihr entgegenkamen, der Waldsteinsonate aus den Lautsprechern, dem Regen, der gegen die Windschutzscheibe prasselte, den Pfefferminzpastillen in einer Tüte auf dem leeren Sitz neben ihr... zur Vorfreude auf Zuhause.
    Sie hatte nichts gesehen. War noch nicht oben in der Wohnung gewesen. Hatte hier nur eine Zeitlang gesessen und sich ausgeruht, bevor sie zu Maurice hochgehen wollte ... zu den Toasts und dem Wein, zu dem warmen roten Bademantel, dem Sofa mit den Decken, Heymans Streichquintett, Kerzen in den hohen Leuchtern von Patmos ... Sie saß nur da und wartete ...
     
    Fast zwei Stunden später kurbelte sie das Seitenfenster hinunter. Die Abendluft und ein dünner Regenschleier drangen herein, und mit ihnen die Wirklichkeit. Zum zweiten Mal nahm sie ihre Tasche und überquerte die Straße. Diesmal warf sie keinen Blick auf die Wohnung. Sie wußte, daß nichts außer Maurice dort oben auf sie wartete, und zehn Minuten nach eins konnte sie die Polizei anrufen und ihnen mitteilen, daß der Henker ein weiteres Opfer gefunden hatte.

II
10. – 24. September

16
    »Der Läufer steht falsch«, sagte Bausen.
    »Das sehe ich«, sagte Van Veeteren.
    »F6 wäre besser gewesen. Da, wo er jetzt steht, kriegst du ihn nie frei. Warum hast du dich nicht an Nimzowitsch gehalten, wie ich dir geraten habe?«
    »Davon habe ich noch nie was verstanden«, murmelte Van Veeteren. »In der russischen Eröffnung ist mehr Schwung...«
    »Schwung, ja«, sagte Bausen. »Und jetzt schwingt es überall... reißt große Löcher in deine eigenen Reihen. Gibst du auf?«
    »Nein«, sagte Van Veeteren. »Ich bin noch nicht tot.« Er sah auf die Uhr. »Mein Gott, es ist ja schon Viertel nach eins!«
    »Kein Problem. Die Nacht ist die Mutter des Tages.«
    »Schließlich hast du nicht gerade ein Übergewicht an Figuren, wenn man es genau betrachtet ...«
    »Das ist in dieser Situation auch gar nicht nötig. Der H-Bauer schlägt die Dame in spätestens drei, vier Zügen.«
    Das Telefon klingelte, und Bausen verschwand durch die Tür.
    »Was, zum Teufel?« murmelte er. »Dann ist es also soweit. . .«
    Van Veeteren beugte sich vor und studierte das Spielbrett. Es gab keinen Zweifel. Bausen hatte recht. Die Lage war hoffnungslos. Schwarz konnte den Turm und die Zentrumsbauern schlagen, und dann war die H-Reihe frei. Sein verbleibender
Läufer stand auf dem Königsflügel, von den eigenen Bauern eingemauert. Schlechtes Spiel, verflucht schlechtes Spiel... er hätte eine Niederlage mit Schwarz akzeptieren können, aber da er mit den weißen Steinen russisch hatte eröffnen können, gab es keine Entschuldigung. Überhaupt keine.
    Bausen kam hereingestürzt.
    »Remi, zum Teufel!« rief er. »Er hat es wieder getan!«
    Van Veeteren sprang auf die Beine.
    »Wann?«
    »Weiß ich nicht. Vor fünf Minuten kam der Anruf. Los doch, es ist eilig!«
    Er kämpfte sich durch den Garten, blieb dann aber am Tor plötzlich stehen.
    »Verdammt! Die Autoschlüssel...«
    »Willst du jetzt etwa Auto fahren?« fragte Van Veeteren. »Du hast doch mindestens einen Liter getrunken!«
    Bausen zögerte.
    »Wir gehen«, entschied er. »Sind ja auch nur ein paar hundert Meter von hier.«
    »Dann aber los«, sagte Van Veeteren.
     
    Polizeianwärter Bang war als erster in der Leisner Allee gewesen, und innerhalb nur weniger Minuten war es ihm gelungen, das ganze Haus zu wecken. Als Bausen und Van Veeteren um die Ecke bogen, leuchteten ihnen alle Fenster entgegen, und auf den Treppen und den Wohnungsabsätzen wimmelte es nur so von Menschen.
    In der entscheidenden Wohnungstür hatte Bang sich selbst postiert, so daß zumindest kein Risiko bestand, daß Unbefugte am Tatort herumtrampelten. Freundlich, aber entschieden, begann Bausen die Nachbarn in ihre jeweiligen Wohnungen zurückzuschieben, während sich Van Veeteren der jungen Frau annahm, die zitternd auf dem Boden neben dem Polizeianwärter saß und die allem Anschein nach das Opfer gefunden und die Polizei angerufen hatte.

    »Mein Name ist Van Veeteren«, sagte er. »Möchten Sie etwas zu trinken?«
    Sie schüttelte den Kopf. Er ergriff ihre Hände und stellte fest, daß sie eiskalt waren und zitterten.
    »Wie heißen Sie?«
    »Beatrice Linckx. Wir wohnen zusammen. Er heißt Maurice

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