Das vierte Opfer - Roman
sie vielleicht sogar recht. Vielleicht hätte er wirklich die Möglichkeit gehabt, nein zu sagen.
»Sie haben noch einen in Kaalbringen gefunden«, hatte Hiller gesagt. »V. V. braucht jemanden, den er beschimpfen kann, sonst löst er den Fall nie. Du mußt hinfahren, Münster!«
Dagegen hatte er keine direkten Einwände gehabt, und genau
da drückte der Schuh. Die hätte er haben sollen. Es gab schließlich drei gleichwertige Kriminalbeamte, allesamt Junggesellen – Reinhart, Rooth und Stauff –, die Hiller an seiner statt hätte hinschicken können.
Aber er hatte Münster ausgesucht.
Der ohne mit der Wimper zu zucken akzeptiert hatte. Ohne daran zu denken, daß er sich von Synn und den Kindern trennen mußte für... ja, für wie lange eigentlich? Das wußte niemand – ein paar Tage? Eine Woche? Noch länger? Bis dieser Henker endlich hinter Schloß und Riegel saß?
Und nachdem er akzeptiert hatte, war es natürlich nicht mehr so einfach, sich zurückzuziehen, das hatte Synn auch verstanden, aber schließlich hätte er gleich von Anfang an dran denken sollen. An dem Punkt hatten sie am gestrigen Abend aufgehört, dort waren sie ins Stocken geraten. Synn war ins Bett gegangen, er war noch aufgeblieben... und jetzt wußte er, daß sie recht hatte. Zumindest jetzt wußte er das, während er hier saß, es ihm schlechtging und er viel zu schnell in diese unerträgliche graue Sinnlosigkeit hineinfuhr.
Ich will nicht von ihr wegfahren, dachte er. Ich will zu ihr hinfahren. Will mich ihr nähern, nicht entfernen.
Wenn es nun tatsächlich Van Veeteren gewesen sein sollte, der ausdrücklich nach ihm verlangt hatte, so würde er sich natürlich unter anderen Bedingungen leicht geschmeichelt fühlen, aber im Augenblick war das nur ein geringer Trost.
Ich weiß, daß ich ein guter Polizist bin, dachte er. Ich wünschte nur, ich wäre ein ebenso guter Ehemann und Vater... Das klang zugegebenermaßen etwas pathetisch, und er zog sein Taschentuch aus der Hosentasche und putzte sich die Nase.
Bokkenheim, Kaalbringen 49, las er auf dem Schild. Wieder hatte er zehn Kilometer hinter sich gebracht.
Er fand zum See Wharf, ohne anhalten und nach dem Weg fragen zu müssen. Hauptkommissar Van Veeteren war im Augenblick
nicht da, wie ihm gesagt wurde, aber es war ein Zimmer für ihn reserviert.
Sobald er oben war, stürzte er ans Telefon. Mußte unendlich lange warten, bis die Zentrale ihn freischaltete, aber als die Signale endlich durchkamen, spürte er zu seiner Überraschung, daß sein Herz heftig pochte... fast wie als Jugendlicher, als er die rothaarige Marie vom Apotheker angerufen hatte, um sie nach den Französischhausaufgaben zu fragen. Wie merkwürdig – oder war es eigentlich nur allzu verständlich?
Bart nahm den Hörer ab. Mama war unterwegs, erfuhr er. Nein, er wußte nicht, wo sie war, und auch nicht, wann sie zurückkommen würde. Tante Alice war bei ihnen... Wann würde denn Papa nach Hause kommen?
»Sobald ich kann«, antwortete er. »Grüße Marieke und Mama. Und sag Mama, daß ich später noch mal anrufe und daß ich sie liebe.«
»Wie albern«, stellte sein sechsjähriger Sohn fest und legte den Hörer auf.
Münster seufzte, fühlte sich aber etwas besser. Zeit, sich in die Höhle des Löwen zu begeben, dachte er.
Aber ich wäre viel besser zu gebrauchen, wenn ich erst ein paar Stunden Mittagsschlaf halten könnte, die Arme um meine Frau gelegt, dachte er.
18
»Wenn Mooser die Tür zumacht, können wir anfangen«, stellte Bausen fest.
Kropke knipste den Overheadprojektor an.
»Ich denke, es wird das einfachste sein, wenn wir versuchen, den Handlungsablauf so weit wie möglich nachzuvollziehen ... um die Situation zusammenzufassen und Kommissar Münster ein wenig ins Bild zu setzen.«
»Danke«, sagte Münster.
»Der Ermordete«, fuhr Bausen fort, »ist also ein gewisser Maurice Rühme, einunddreißig Jahre alt, Arzt hier am Krankenhaus, Spezialist für Orthopädie und Rückenprobleme. Er arbeitet seit März hier. Für unsere Gäste«, er nickte Van Veeteren und Münster zu, »möchte ich unterstreichen, daß der Name Rühme hier in der Stadt nicht gerade unbekannt ist. Oder, Kropke?«
»Jean-Claude Rühme ist Oberarzt am Krankenhaus«, berichtete Kropke. »Außerdem hat er eine Privatklinik in seinem Haus oben auf dem Hügel. Soweit ich weiß, arbeitet er auch für das Gesundheitsamt...«
»Maurice ist einer von zwei Söhnen«, übernahm Bausen wieder. »Der andere ist im
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