Das vierte Opfer - Roman
Ermittlungsleitung blühte auch eine reichhaltige Flora von Tips. Entsprechend plaziert, präsentierte das Neuwe Blatt die sogenannte Leisner-Park-Theorie, die auf der Tatsache beruhte, daß der Täter zumindest bei zwei der Taten (Simmel und Rühme) höchstwahrscheinlich gerade aus diesem Park herausgekommen war und daß sein Unterschlupf deshalb in der Gegend um den Park herum zu suchen sei. C. G. Gautienne von den Poost schrieb, daß »das sich steigernde Tempo des Mörders ohne Zweifel darauf hindeutet, daß Anfang der kommenden Woche ein neues Opfer zu erwarten ist. Am Dienstag oder allerspätestens am Mittwoch...« Und im Telegraaf konnte man sich über die effektivsten Möglichkeiten, sich vor dem Mörder mit der Axt zu schützen, informieren, sowie über die Weissagung der Hellseherin Ywonne, daß das nächste Opfer sicherlich ein 42jähriger Mann aus der Baubranche sein würde.
Beate Moerk seufzte.
Und schließlich de Journaal, Kaalbringens eigene Stimme in die Welt hinaus, das war natürlich die Zeitung, die den Morden den größten Platz einräumte – insgesamt achtzehn von zweiunddreißig Seiten – und die möglicherweise die allgemeine Unruhe und Stimmung in der Stadt am besten in ihren Schlagzeilen interpretierte und zusammenfaßte, achtspaltig und in Übergröße:
WER WIRD DAS NÄCHSTE OPFER?
Beate Moerk warf die Zeitungen auf den Boden. Sie lehnte sich zurück in die Kissen und schloß die Augen.
Wenn sie nur nach den Signalen ihres Körpers gegangen
wäre, hätte sie sich jetzt am liebsten die Decke über den Kopf gezogen und wäre wieder eingeschlafen.
Aber es war schon elf. Höchste Zeit, eine Runde zu drehen. Drei Kilometer Richtung Westen am Meer entlang, und dann vier, fünf durch den Wald zurück. Das Wetter war immer noch etwas böig, aber der Regen schien nachgelassen zu haben. Auf der freien Fläche würde sie Rückenwind haben, das war das wichtigste. Im Wald war es gleich, da war es meistenteils windgeschützt.
»Geh nicht allein raus, was immer du auch tust!« hatte ihre Mutter ihr beim gestrigen Telefongespräch befohlen. »Glaub nur nicht, daß er sich nicht an Frauen ranmacht, und bilde dir bloß nicht ein, daß es dir etwas nützt, daß du bei der Polizei bist!«
Wenn es irgend jemand anders gewesen wäre, der ihr diesen Rat gegeben hätte, hätte sie vielleicht zugehört und etwas von den Ratschlägen angenommen, aber so ... Es war Jahre her, seit sie gelernt hatte, die guten Ratschläge ihrer Mutter durchs eine Ohr rein- und durchs andere wieder rauszulassen.
Eine Viertelstunde später war sie angezogen und bereit. Sie zog den Reißverschluß ihrer Trainingsanzugsjacke bis oben hin zu und band sich das breite, rote Band ums Haar.
Sah sich im Spiegel an. So.
Fürchtete weder Tod noch Teufel.
Wind, Wetter oder Gewaltverbrecher ...
Die Dämmerung setzte schnell ein. Sie fiel fast wie ein Vorhang, und als sie in die Wohnung zurückkam, war es fast schon ganz dunkel, obwohl es noch nicht später als sieben war. Die Müdigkeit konnte sie jetzt in den Knochen spüren. Zwei Stunden Jogging und Stretching, danach vier Stunden Krisensitzung in der Dienststelle... Natürlich hinterließ das seine Spuren. Wer konnte etwas anderes verlangen, auch von einer Frau, die im besten Alter war, wie es hieß?
Dennoch weigerte sie sich, sofort ins Bett zu gehen. Sie überwand
sich, ein Abendessen mit Omelett, Gemüse und Käse zu bereiten. Deckte den Tisch und setzte Kaffee auf. Zwei Stunden am Schreibtisch in aller Ruhe, das war es, was sie sich jetzt wünschte. Zwei Stunden in einsamer Würde, mit der Dunkelheit und der Stille wie eine schützende Kuppel um die Gedanken und Überlegungen... um das Collegeheft, die Aufzeichnungen und Spekulationen, denn sie hatte geplant, während dieser Abendsitzungen den Fall zu lösen. Hier, beim konzentrierten Nachdenken an ihrem Schreibtisch, würde die Polizeiinspektorin Beate Moerk den Henker aus dem Ärmel ziehen, identifizieren und überlisten.
Wenn nicht heute abend, dann auf jeden Fall schon bald ...
Ob es wohl irgendeinen anderen Bullen in diesem Land gab, überlegte sie, der eine romantischere Einstellung zu seiner Arbeit hatte als sie? Wohl kaum. Wie dem auch sei, es gab noch eine andere Regel, von der sie ungern abwich, auch wenn sie gar nicht so genau wußte, woher sie sie eigentlich hatte:
Der Tag, an dem man sich nicht einmal für kurze Zeit mit dem beschäftigen kann, was einem wirklich am Herzen liegt, der Tag ist ein
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