Das vierte Opfer - Roman
Rühme blieb stehen und nahm ihre Brille ab.
»Ich muß sie saubermachen«, sagte sie. »Ich kann so schlecht sehen. Haben Sie ein Taschentuch?«
»Leider nicht«, sagte Bausen.
Sie setzte sie wieder auf.
»Wann haben Sie Maurice das letzte Mal gesehen?« wiederholte Bausen.
»Schwer zu sagen. Sie sind von der Polizei, nicht wahr?«
»Mein Name ist Bausen. Ich bin Polizeichef hier in Kaalbringen. Erkennen Sie mich nicht wieder?«
»Doch, doch«, versicherte Elisabeth Rühme. »Sie heißen Bausen.«
Er drehte sie vorsichtig um, und die beiden gingen zurück zu dem nikotingelben Pavillon.
»Es ist schön hier«, sagte er.
»Ja«, sagte sie. »Besonders, wenn die Blätter fallen.«
»Ihr zweiter Sohn... Pierre?«
»Er ist krank. Wird nie gesund werden. Es ist damals was in der Kirche passiert, wissen Sie das nicht?«
»Doch, doch«, versicherte Bausen.
»Ich habe ihn lange nicht gesehen«, sagte sie nachdenklich.
»Vielleicht kann er ja jetzt Arzt werden, anstelle von Maurice. Das wäre schön. Glauben Sie, daß man das irgendwie organisieren kann?«
»Vielleicht«, sagte Bausen. Eine Schwester mit weißer Haube kam ihnen entgegen.
»Vielen Dank für den Spaziergang und die Unterhaltung«, sagte er. »Ich werde Beatrice bitten, Sie nächste Woche zu besuchen.«
»Danke schön«, sagte Elisabeth Rühme. »Es war schön, mit
Ihnen zu laufen. ich hoffe, ich bin Ihnen nicht zur Last gefallen.«
»Ganz und gar nicht«, versicherte Kommissar Bausen. »Ganz und gar nicht.«
Der Oberarzt Rühme und seine feine Familie, dachte er, während er zum Parkplatz schlenderte und seine Pfeife auskratzte.
22
»Wir gehen«, hatte Beate Moerk entschieden. »Es gibt keinen Grund, die achthundert Meter mit dem Auto zu fahren.«
Und so spazierte er neben dem weiblichen Polizeiinspektor durch Kaalbringens Straßen, und plötzlich mußte er wieder an Apothekers Marie denken. Das Bild tauchte nur kurz vor ihm auf, und er fragte lieber nicht, warum. Die beiden Gespräche mit Synn hatten zwar nicht alle Mißverständnisse aus dem Weg geräumt, aber sie schienen auf dem richtigen Weg zu sein... ja, natürlich würde alles wieder seinen gewohnten Gang gehen, wenn er nur endlich wieder nach Hause kam. Wenn er sie nur bald wiedersah.
Selbstverständlich.
Das Haar der Inspektorin war nicht rot. Ganz und gar nicht. Eher dunkelbraun, an der Grenze zum Schwarz. Er achtete darauf, daß sich ihre Schultern nicht berührten, während sie nebeneinander hergingen, aber es kostete ihn einige Konzentration, den entsprechenden Abstand einzuhalten, und als sie angekommen waren, erinnerte er sich nur noch vage daran, worüber sie auf dem Weg gesprochen hatten.
Sicher kein großer Verlust, dachte er. Die meiste Zeit war es wahrscheinlich um die Namen der Straßen und Plätze gegangen, an denen sie vorbeigeschlendert waren, aber dennoch verwunderte ihn das. Mit seinem seelischen Gleichgewicht war es offensichtlich nicht zum besten gestellt. Eine Unruhe war in
ihm, die sich nicht so einfach ignorieren ließ. Nicht gerade die beste Voraussetzung für detektivische Arbeit. Ein Jucken in der Seele. Was war nur los mit ihm, verflucht noch mal?
»Da sind wir«, sagte sie. »Die Haustür ist da. Der Leisnerpark gegenüber, wie du siehst.«
Münster nickte.
»Wollen wir raufgehen?« fragte er.
»Natürlich«, erwiderte sie. Betrachtete ihn dabei etwas verwirrt.
Beatrice Linckx hieß sie willkommen und zeigte dabei ein schwaches Lächeln. Der Flur war mit einem neuen Teppich ausgelegt worden, wie Münster feststellte. Vom Blut war keine Spur mehr zu sehen, aber ihm war klar, daß man im Holz darunter immer noch etwas finden würde ...
Blut läßt sich nicht so schnell ausmerzen, pflegte Reinhart immer zu sagen. Das übertüncht man.
Blasses Sonnenlicht fiel durch die hohen Fenster in das große Zimmer und ließ Beatrices Zerbrechlichkeit noch deutlicher hervortreten. Sie sah zwar gefaßt und erholt aus, aber die äußere Hülle war nur dünn... nicht dicker als das Eis einer Nacht, dachte er, und er hoffte, daß Inspektorin Moerk sensibel genug war, die Zeichen richtig zu deuten und nicht einfach darüber hinwegzugehen.
Hinterher war ihm klar, daß er sich keine Sorgen hätte machen müssen. Das hier war Beate Moerks Verhör. Sie war es, die die Zügel in der Hand hatte und darauf achtete, daß nichts aus dem Ruder lief. Sie hatten sich vorher nicht abgesprochen, sich nicht über die Arbeitsteilung verständigt, aber je weiter sie
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