Das vierte Opfer - Roman
verlorener Tag.
Wie wahr.
Das Dreieck sah spektakulärer aus als je. Drei Namen, einer in jeder Ecke. Eggers – Simmel – Rühme. Und dann ein Fragezeichen in der Mitte.
Ein Fragezeichen, das ausgelöscht und durch den Namen des Mörders ersetzt werden sollte... ein Name, der dann für alle Zeit in aller Leute Munde sein würde. Zumindest in dem der Einwohner von Kaalbringen. Denn einen Verbrecher vergißt man nicht. Staatsmänner, Künstler, gefeierte Artisten verlieren sich im Dunkel der Zeit, aber der Name eines Mörders bleibt in der Erinnerung haften.
Drei Opfer. Drei neu hinzugezogene Männer. So unterschiedlich, wie man es sich nur denken konnte. War es überhaupt möglich, sich größere Extreme vorzustellen?
Ein ausgestoßener Junkie und Knastbruder.
Ein etablierter, gutsituierter, aber nicht besonders sympathischer freier Unternehmer.
Ein junger Arzt, Sohn eines der prominentesten Bürger der Stadt.
Und je länger sie auf diese Namen starrte und auf ihre Notizen, ihre Vermutungen und ihre Kritzeleien, um so klarer wurde ihr, daß sich durch das Auftauchen des dritten Opfers in keiner Weise irgendein Weg geöffnet hatte.
Im Gegenteil. Je mehr, um so schlimmer, so hatte es den Anschein.
Um Viertel vor elf spürte sie, daß sie kaum noch die Augen offenhalten konnte. Sie löschte das Licht, putzte die Zähne und ging ins Bett.
Morgen würde sie arbeiten. Ein neuer Tag. Die übliche Leier von Fragen und Antworten, Fragen und Antworten... und vielleicht war es gerade dieses Einerlei, das letztendlich ein Ergebnis bringen würde. Aus der Unmenge der Fakten, Protokolle und Tonbandaufzeichnungen würde sich langsam ein Punkt herauskristallisieren, ein Muster ergeben, aus dem heraus es möglich war, die wichtigste aller wichtigen Fragen zu stellen.
Wer ist er?
Und von dem aus auch eine Antwort möglich war.
Aber um wieviel lieber wäre es ihr gewesen, das Gesicht des Mörders wäre ihr im Traum erschienen ... mit immer deutlicheren Konturen, ein Gesichtszug nach dem anderen. Daß die dunklen Stunden der Nacht ein Portrait herausgemeißelt hätten, fix und fertig, um es morgens dem Polizeichef auf den Tisch zu legen.
Eine Abkürzung. Eine Eselsbrücke, die über all diese trostlosen Ermittlungen reichte.
Wieviel schöner das doch wäre!
21
Jean-Claude Rühme entsprach seinem Prototyp. Ein breitschultriger Mann in den Sechzigern mit weißer Löwenmähne und scharfen, aber erstarrten Gesichtszügen. Ein Zwischending zwischen Mensch und Monument, dachte Van Veeteren. Oder war es nur die Trauer, die ihn versteinern ließ?
Er empfing sie in seinem Arbeitszimmer. Saß hinter seinem dunklen Schreibtisch mit den Intarsienarbeiten in Rot und Ocker. Er erhob sich zu voller Größe und begrüßte Van Veeteren.
»Der Herr Hauptkommissar muß entschuldigen. Aber mein Nachtschlaf ist seit dem Unglück nicht der beste. Bitte, setzen Sie sich doch. Möchten Sie etwas trinken?«
Tiefe, entgegenkommende Stimme.
»Ein Glas Selters«, sagte Van Veeteren. »Wenn es keine Umstände macht. Mein aufrichtiges Beileid, Doktor Rühme.«
Der Doktor sprach in die Gegensprechanlage, und nach dreißig Sekunden tauchte ein farbiges Mädchen mit zwei Flaschen auf einem Tablett auf.
»Ich bin Ihnen dankbar, daß Sie mir bis heute Zeit gelassen haben«, erklärte Rühme. »Jetzt bin ich bereit, Ihre Fragen zu beantworten.«
Van Veeteren nickte.
»Ich will mich kurz fassen, Herr Doktor«, sagte er. »Ich habe eigentlich nur ein paar Fragen, die Details betreffend, aber darüber hinaus möchte ich Sie bitten... und zwar auf das eindringlichste... daß Sie Ihre Intelligenz und Ihre Intuition benutzen, um uns zu helfen. Also, ich ziehe es vor, den Mord an Ihrem Sohn als einen isolierten Fall zu betrachten, getrennt von den anderen.«
»Warum?«
»Aus mehreren Gründen, vielleicht in erster Linie aus ermittlungstechnischen. Es ist einfacher, sich auf eine Sache zu konzentrieren.«
»Ich verstehe.«
»Wenn Sie also irgendeine Vorstellung davon haben, welches Motiv dahinterstecken könnte, wer einen Anlaß gehabt haben könnte, Ihren Sohn aus dem Weg zu räumen, dann zögern Sie bitte nicht. Sie können mich Tag und Nacht erreichen. Vielleicht haben Sie schon jetzt irgendwelche Vermutungen?«
»Nein, nein – gar nichts.«
»Ich weiß, daß Trauer lähmend wirken kann, aber falls Ihnen irgend etwas einfällt, dann...«
»Natürlich, Herr Hauptkommissar, aber ich versichere Ihnen... Sie haben ein paar Fragen zu
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