Das vierte Opfer - Roman
Räucherei ab. Schloß ab und zog den Reißverschluß ihrer Jacke ein wenig weiter nach unten. Es war wärmer, als sie gedacht hatte, wahrscheinlich würde sie ziemlich ins Schwitzen kommen.
Dann lief sie los, und genau wie sie es gewohnt war, ging die innere Erregung unmittelbar in den Körper über. Bis in die zuckenden Beine und Füße... das Tempo war für den Anfang der reinste Wahnsinn. Das würde sich rächen. Aber es mußte sein. Sie mußte einfach rennen. Rennen und sich richtigverausgaben, damit irgendeine Ordnung in ihre Gedanken kam... um die Nervosität und Überspanntheit abzureagieren, die in ihr vibrierten, das
fast hysterische Gefühl eines bevorstehenden Triumphs. Daß sie bald die Lösung in der Hand halten würde.
Der Durchbruch war geschafft. Nun ja, das war vielleicht zuviel gesagt, aber sie mußte nur noch die Gedankengänge beenden, die durch den Melnikbericht aus ihrem Schlummer geweckt worden waren und die sich nach einer ersten Überprüfung... nun ja, als was erwiesen hatten?
Jedenfalls gab es nichts, was dagegen sprach ... nicht den geringsten Punkt. Was das jedoch im Endeffekt bedeutete, war natürlich eine andere Frage.
Sie sprang auf den Strand und bog zum Wasser ab. Der Wind war hier unten noch wärmer, und sie bereute, daß sie keine dünnere Kleidung angezogen hatte.
Es gab also nichts, was dagegen sprach. Ganz im Gegenteil. Vieles sprach dafür, vielleicht sogar alles. Wenn sie es Münster heute abend nur in Ruhe darlegen konnte, war die Sache sicher klar... Die Dämmerung hatte eingesetzt, und sie überlegte, ob sie heute wirklich die ganze Runde drehen sollte. Vermutlich würde es auf dem Rückweg im Wald schon ziemlich schummrig sein, andererseits kannte sie dort ja jeden Stein... vielleicht sogar jede Wurzel und alle herabhängenden Zweige, gewiß wäre es eine Schlamperei, die Runde abzukürzen, und Beate Moerk haßte Schlamperei.
Und Münster würde nicht vor acht Uhr anrufen. Bis dahin hatte sie noch viel Zeit.
Die Milchsäure stellte sich bald ein. Kein Wunder, dachte sie und verlangsamte endlich ihr Tempo... Es hatte keinen Sinn, so ein Tempo vorzulegen, wenn sie anschließend nur noch durch den Wald stolpern konnte.
Eine Schlagzeile erschien vor ihrem inneren Auge:
WEIBLICHER POLIZEIINSPEKTOR FÄNGT DEN HENKER!
Und dann der Einleitungssatz in dem Stil: »Trotz hinzugeholter Experten war es schließlich Beate Moerk aus Kaalbringen, die den landesweit bekannten Fall des Mörders mit der Axt
löste. Unsere Stadt ist ihr zu tiefem Dank verpflichtet, jetzt, wo die Einwohner endlich wieder unbeschwert auf den Straßen spazierengehen und des Nachts ruhig schlafen können...«
Die Flammen der Selbstzufriedenheit loderten in ihr, deshalb steigerte sie lieber wieder das Tempo. Sehr lange war sie jedoch nicht in der Lage, sich an den Formulierungen zu weiden, da brachte sich eine neue, vollkommen unerwartete Schlagzeile in Erinnerung. Diesmal war es der Titel eines Buches, das sie nie gelesen hatte, von dem sie aber wußte, daß sie es vor vielen Jahren im Ramsch gesehen und in der Hand gehalten hatte. Es war ein englisches Buch.
»The Loneliness of a Long Distance Runner«
Die Einsamkeit des Langstreckenläufers?
Sie machte einen Schritt zur Seite und wäre fast in den Sand gefallen.
Wie um alles in der Welt war es möglich, daß dieses Buch gerade jetzt aus dem Brunnen des Vergessens auftauchte?
Sie schob die Frage beiseite und warf einen Blick über die Schulter. Der Strand lag leer da. Hinter ihr genauso leer wie vor ihr. Sie kontrollierte die Zeit. Sieben Uhr fünfundzwanzig... in ein paar Minuten würde sie bei dem weißen Steinblock und dem Tunnel unter der Straße angekommen sein. Dann die leichte Steigung in den Wald hinauf, und ab ging es nach Hause...
Beate Moerk löst das Rätsel des Axtmörders!
The Loneliness of a Long Distance Runner.
Als sie sich auf dem letzten Anstieg vor der Kuppe befand, war sie schon ziemlich müde. Die Unterschenkelmuskeln taten ihr weh, und ihr Herz pumpte wie verrückt... jetzt galt es nur noch, hoch zu kommen. Reine Willenssache, die Fäuste ballen, Zähne zusammenbeißen und sich die letzten Meter zwingen. Danach, auf der anderen Seite des Hügels, ging es bergab... dann konnte sie sich beim Laufen ausruhen, wieder Kraft schöpfen, sich sammeln vor dem letzten Stück, der herrlichen
Abschlußgeraden durch den Baumbestand bis unten zur Räucherei und zum Parkplatz ...
Die Gedanken an das leicht bezwingbare
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