Das vierte Opfer - Roman
mit den Nadeln, wobei er die Wangen einsog und fast träumerisch dreinblickte.
Schließlich war es der Polizeianwärter Mooser, der die dumpfe Verwirrung im Zimmer deutete und in Worte faßte.
»Hierher?« rief er aus. »Was, zum Teufel, wollte sie denn hier?«
Es vergingen drei Sekunden. Dann stöhnten Kropke und Mooser fast gleichzeitig auf:
»Ihr Zimmer!«
»Verflucht noch mal!« entfuhr es dem Polizeichef, während er die noch nicht angezündete Zigarette zu Boden fallen ließ. »Hat das jemand von euch überprüft?«
Mooser und Kropke waren bereits auf dem Weg. Münster war aufgestanden, und Bausen sah aus, als wäre er gerade bei
der ersten Prüfung in grundlegender Polizeiarbeit durchgefallen. Nur Van Veeteren saß unberührt da und wühlte in seiner Brusttasche.
»Natürlich«, murmelte er. »Da werdet ihr nichts finden. Aber seht gern selbst noch mal nach... sechs Augen sehen ja bekanntlich mehr als zwei, wie zumindest zu hoffen ist.«
IV
27. September – 1. Oktober
42
»Ich nehme an, du weißt, wo du bist?« fragte er, und es klang eine große Müdigkeit in seiner Stimme mit.
»Ich glaube schon«, antwortete sie, direkt in die Dunkelheit.
Er hustete.
»Und dir ist klar, daß du keine Möglichkeit hast, hier aus eigener Kraft rauszukommen?«
»Ja.«
»Du bist in meiner Gewalt. Sind wir uns darin einig?«
Sie antwortete nicht. Wunderte sich plötzlich darüber, wie eine so starke Entschlossenheit sich mit einer so großen Trauer in seinen Worten paaren konnte. Wunderte sich und begriff gleichzeitig, daß genau das der Grundakkord in dieser ganzen Geschichte war.
Trauer und Entschlossenheit.
»Sind wir uns darin einig?«
»Ja.«
Er machte eine Pause und schob sich den Stuhl zurecht. Vermutlich schlug er ein Bein über das andere, aber das konnte sie nur raten. Die Dunkelheit war erschreckend dicht.
»Ich...«, begann sie.
»Nein«, sagte er tonlos. »Ich will nicht, daß du unnötig redest. Wenn ich will, daß du dich äußerst, dann sage ich es dir schon. Das hier ist keine Unterhaltung, sondern ich will dir eine Geschichte erzählen. Das einzige, was ich von dir verlange, ist, daß du zuhörst...«
»Eine Geschichte«, wiederholte er.
Er zündete sich eine Zigarette an, und für einen Moment wurde sein Gesicht von einer schwach glühenden Röte erleuchtet.
»Ich will dir eine Geschichte erzählen«, sagte er zum dritten Mal. »Nicht, weil ich Verständnis oder Vergebung von dir will, solche Dinge sind mir schon seit langem nicht mehr wichtig, sondern nur, weil ich mich noch einmal erinnern will, bevor alles vorbei ist.«
»Was willst du mit mir tun?« fragte sie.
»Unterbrich mich nicht«, sagte er. »Ich möchte dich bitten, mich nicht zu stören. Vielleicht habe ich mich ja noch nicht entschieden ...«
In der dichten Stille und Dunkelheit konnte sie seinen Atem hören. Drei, vier Meter von ihr entfernt, mehr nicht. Sie schloß die Augen, aber es veränderte sich nichts.
Die Dunkelheit blieb. Die Gerüche – alte Erde, frischer Tabaksrauch. Und der Mörder.
43
Bausen fischte zwei Bier aus der Aktentasche und öffnete sie.
»Wir sollten die anderen Beobachtungen nicht vergessen«, sagte er. »Es gibt sieben, acht Zeugen, die todsicher sind, sie an einer anderen Stelle gesehen zu haben. Sie kann ja auch noch woandershin gegangen sein. Die, die sie hier gesehen haben, taten das zwischen halb und Viertel vor, nicht wahr?«
Van Veeteren antwortete nicht. Er zündete sich eine Zigarette an und stellte die Spielfiguren zurecht.
»Kropke war schon bei mehr als hundert Nadeln, als ich nach Hause gefahren bin«, fuhr der Polizeichef fort. »Die roten sind so langsam alle aufgebraucht – was ihn etwas beunruhigt. Na, was glaubst du eigentlich?«
Van Veeteren zuckte mit den Schultern.
»Sagen wir mal, daß sie auf jeden Fall hierher gefahren ist«, sagte er. »Und wenn nur erst mal der Einfachheit halber. Bitte schön, Herr Polizeichef. Sizilianisch, wie ich annehme?«
»Natürlich«, lachte Bausen und schob den e-Bauern vor.
»All right. Sie ist also hergefahren. Aber was hat sie verdammt noch mal hier gewollt?«
»Das weiß ich nicht«, sagte Van Veeteren. »Aber ich denke, ich werde es herauskriegen.«
»Aha«, sagte Bausen. »Und wie? Ihr Zimmer hat uns jedenfalls nicht besonders viele Hinweise gegeben.«
Van Veeteren zuckte mit den Schultern.
»Zugegeben«, sagte er. »Dein Zug. Wenn ich gewinne, übernehme ich die Führung, ist dir das
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