Das vierte Opfer - Roman
gebadet.«
»Du hast im Meer gebadet, du Blödkopf«, korrigierte sein Sohn.
»Haben wir noch was von dem Schlafmittel?« wollte der Kommissar wissen.
Van Veeteren lehnte sich in seinen Kissen zurück und griff zum Melnikbericht. Wog ihn eine Weile in der Hand und schloß die Augen.
Entsetzlich, dachte er. Über alle Maßen entsetzlich.
Oder eher peinlich. Irgendwo in diesem verfluchten Papier fand sich die Antwort, und er konnte sie nicht entdecken. Vierunddreißig Seiten, insgesamt fünfundsiebzig Namen ... er hatte sie unterstrichen und zweimal gezählt – Frauen, Geliebte und mögliche Geliebte, gute Freunde, Studienkommilitonen, Kollegen, Nachbarn, Mitglieder im gleichen Golfclub, bis hin zu äußerst zufälligen Bekanntschaften, Randfiguren, die Maurice Rühmes Spur in irgendeiner Richtung einmal gekreuzt hatten. Und Ereignisse: Reisen, Prüfungen, Examen, Jobs, Feste, neue Adressen, Kongresse, Kokainentzug... alles war auf diesen dichtbeschriebenen Seiten notiert, ordentlich und minutiös in Kommissar Melniks trockener Prosa verfaßt. Es war ein Meisterwerk detektivischer Arbeit, ganz ohne Zweifel, und dennoch fand er nichts. Keinen noch so winzigen Hinweis!
Was war es also?
Was um Himmels willen hatte Beate Moerk nur gesehen?
Oder war es einfach so, daß sie eine Fähigkeit besaß, die die anderen nicht hatten? Konnte das der Fall sein? Daß er sich doch noch nicht an Borkmanns Punkt befand, wenn er es genau betrachtete?
Auf dem Nachttisch hatte er ihre Notizblöcke liegen. Drei Stück, die zu öffnen er immer noch nicht über sich gebracht hatte.
Es widerstrebte ihm. Wenn sie wirklich etwas Wesentliches enthielten, warum hatte der Mörder sie dann liegengelassen? Er hatte ausreichend Zeit gehabt, und er schien nicht der Typ zu sein, der irgend etwas dem Zufall überließ ...
Und wenn sie, trotz allem, immer noch am Leben war – hieße es dann nicht, in ihr Privatleben einzudringen? In ihr Allerheiligstes vorzustoßen? Bevor er sie öffnete, konnte er ja nicht ahnen, welche Gedanken sie diesen Blocks anvertraut hatte –
jedenfalls waren sie keineswegs für ihn bestimmt gewesen, so viel war schon mal klar.
Und galt die gleiche Zurückhaltung nicht auch, wenn sie tot war?
Doch, natürlich. Vielleicht sogar in noch größerem Maße.
Er schloß die Augen und lauschte eine Weile dem Regen. Der mußte jetzt schon seit fast vierundzwanzig Stunden anhalten. Schwer und zäh strömte er von einem unveränderlichen Himmel. Bleigrau und undurchdringlich. Verändert sich in dieser Stadt eigentlich nie das Wetter? dachte er.
Aber eigentlich der richtige Rahmen. Etwas fiel nach unten, stetig, zielgerichtet. Das trostlose Stampfen auf dem gleichen Fleck. Die Wellen in einem toten Meer ...
Die Uhren der Sancta Anna schlugen zwölfmal. Er seufzte. Öffnete die Augen und richtete sie zum vierten Mal auf den Bericht aus Aarlach.
40
»Ja, verdammt, was hätte ich denn machen sollen?« seufzte Wilmotsen und betrachtete das Papier.
»Nun ja«, stellte der Chef vom Dienst fest. »Wenn wir zwei Ausgaben gedruckt hätten, könnten wir natürlich auch doppelt so groß rauskommen.«
Die Nachricht über das Verschwinden von Polizeiinspektorin Beate Moerk und die Begleitumstände hatten zweifellos eine Menge verlangt von dem Schlagzeilentexter Wilmotsen von de Journaal. Die wichtigsten Informationen beziehungsweise die erschütternden Neuigkeiten ließen sich ganz einfach nicht in dem gegebenen Rahmen auf den Punkt bringen, und zum ersten Mal in der achtzigjährigen Geschichte der Zeitung war man gezwungen gewesen, drei verschiedene Schlagzeilen zu drucken.
Um der Informationspflicht auf jeden Fall Genüge zu tun.
Um nicht die Ernsthaftigkeit dieses haarsträubenden Dramas in Frage zu stellen, von dem jetzt der vierte (oder war es der fünfte?) Akt in ihrem friedlichen Kaalbringen aufgeführt wurde.
DAS NÄCHSTE OPFER?
stand in der ersten Schlagzeile über einem etwas undeutlichen Bild einer fröhlich lachenden Beate Moerk.
WER HAT DEN ROTEN MAZDA GESEHEN?
wurde in der zweiten gefragt, mit der gleichzeitig festgestellt wurde:
RATLOSE POLIZEI BITTET UM MITHILFE
In der Zeitung wurde mehr als die Hälfte der Seiten den letzten Entwicklungen im Henker-Fall gewidmet. Das Bildmaterial war reichlich; ein Luftfoto vom Räuchereiparkplatz (mit einem weißen Kreuz, das den Platz markierte, wo Beate Moerk ihr Auto stehen gelassen hatte – das sich seit Sonntag abend in sicherer Verwahrung im Keller der
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