Das Vierte Siegel [Gesamtausgabe]
denken.
Auf Gideons Vorschlag hin ritten sie zunächst zu dem Gebirgsbach, aus dem Hexenmeister Maluch sein Schwarzes Wasser gewonnen hatte. Caitlin sprengte Steine aus den Felswänden und verschüttete so das Bächlein.
Gideon schüttelte den Kopf und seufzte schwer. »So einfach wäre es also gewesen, Camora sehr viel früher Einhalt zu gebieten. Ayalas Schuld an diesem Krieg wird in meinen Augen immer größer. Es hätte sie höchstens einen halben Tag gekostet, Camoras Macht zu schwächen. Ich mag gar nicht daran denken, wie vielen Menschen dieses Rinnsal Leid gebracht hat. Dabei denke ich noch nicht einmal an all die Opfer des Krieges. Allein die überlebenden Schattenkrieger fristen für immer ihr trostloses Dasein. Sie essen, trinken und schlafen, bar jeden Gefühls und bar jeder Hoffnung auf Erlösung. Darius beschäftigt sie mit Aufbauarbeiten, aber allein ein Blick in ihre leeren Augen verursacht wohl jedem Menschen Magenschmerzen.«
Caitlin nickte beklommen. »Sie wirkten so furchteinflößend und grausam, dabei waren es bedauernswerte Geschöpfe, die aus eigenem Antrieb niemandem etwas zuleide getan hätten. Darius hat erzählt, dass schon Eltern gekommen sind in der Hoffnung, vielleicht ihren Sohn wiederzuerkennen. Aber in diesen leeren Gesichtern kann niemand mehr irgendwelche Züge oder Merkmale ausmachen. Wie können Menschen nur so grausam sein?« Zutiefst bedrückt sah sie ihren Mann an und wartete darauf, dass er sie tröstend in den Arm nehmen würde.
Aber der blickte nur mit zusammengekniffenen Augen auf den Eingang zum Wolkenpfad. Langsam begann sie, sich wieder Sorgen um ihn zu machen. Er beschwerte sich nicht mehr über ihr Leben in der Burg, tat, was immer man von ihm verlangte, gab sich heiter und sorglos, aber immer, wenn er sich unbeobachtet glaubte, starrte er nachdenklich vor sich hin. Auch wenn sie nachts erwachte, fand sie ihn regelmäßig wach und gedankenverloren vor. Häufig ließ er ein Pferd satteln und ritt in die Wälder, die die Festung umgaben. Meist kam er erst bei hereinbrechender Dunkelheit zurück. Ihre Fragen beantwortete er stets damit, dass er sich in der Burg nach wie vor unwohl fühle, aber sie glaubte nicht, dass das der einzige Grund seiner Sorgen war.
Sie hörte Gideon erneut tief seufzen. »Es nützt nichts mehr. Geschehenes kann nicht ungeschehen gemacht werden, so sehr ich es manchmal auch wünschte. Unsere Aufgabe kann lediglich sein, zu verhindern, dass Ähnliches noch einmal geschieht. Lasst uns zur Quelle gehen!«
»Aber was machen wir, wenn wir dort sind?«, fragte sie.
Rhonan erwiderte umgehend: »Wir versiegeln sie.«
Seine Begleiter starrten ihn mit offenem Mund an.
Caitlin schüttelte fassungslos den Kopf. »Was? Du willst sie wieder verschließen? Du willst das Siegel der Liebe erneut begraben? Das kann nicht dein Ernst sein.«
»Das ist mein voller Ernst.« Er verzog keine Miene. »Was immer auch in dieser Höhle ist, mit Liebe hat es nichts mehr zu tun. Wir werden daher die Siegel erneuern und endlich unsere Ruhe haben.«
»Bedenke …«, begann Gideon, wurde aber sofort von Rhonan rüde unterbrochen.
»Ich habe gründlich darüber nachgedacht. Du hast es doch selbst gesagt: Das Wasser hat Tausende von Menschenleben gekostet. Salia mag unschuldig in diese Höhle gekommen sein, aber sie hat sich mittlerweile selbst mit viel zu viel Schuld beladen, um jetzt noch Verständnis erwarten zu können.«
Der Verianer schüttelte den Kopf. »Damit unterstützt du die üblen Machenschaften der drei Schwestern. Sollen sie erneut einen Sieg erringen, obwohl sie so schändlich gehandelt haben? Ich kann nicht glauben, dass du das wirklich willst.« In einer hilflosen Geste hob er die Arme.
Sein junger Freund sah ihn mit funkelnden Augen an. »Weißt du, was ich will? Was ich wirklich will? Ich will meine Ruhe. Ich bin müde, ich bin sogar furchtbar müde. Ich habe genug vom Kämpfen, und ich will endlich auch einmal mit dem Gefühl aufwachen können, dass der Tag mir nichts Schlimmeres als eine Erkältung bringen kann. Ich werde jetzt ein Ende machen und diese dämliche Quelle versiegeln.«
»Ich, ich, ich!«, schnaubte Caitlin wutentbrannt und baute sich vor ihm auf. »Du redest immer nur von dir. Ist es dir völlig gleichgültig, wie wir darüber denken? Mit dem, was wir jetzt tun, müssen wir unser Leben lang leben.«
»Was willst du denn tun, Priesterin?«, schnappte er laut und bissig zurück. »Salia einen Altar bauen? Oder glaubst du, es
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