Das vierte Skalpell
Auge war dicht vor dem Schlüsselloch. Er kam wieder hoch, nahm eine
Nagelfeile aus der Tasche und bohrte vorsichtig in dem Loch herum.
»Der Schlüssel steckt von außen«, sagte
er.
Steimle machte erstaunte Augen. »Das
wundert mich. Er steckt sonst immer von dieser Seite.«
Nogees wandte sich schnell um. »Woher
wissen Sie das?«
»Ich habe ihn hundertmal stecken
sehen«, antwortete Steimle ruhig. »Wie hätte der Chef anders abschließen
sollen!«
»Die äußere Tür«, sagte Nogees sanft.
Steimles Wangen röteten sich leicht.
Nogees ging mit kleinen Schritten zur
anderen Tür. Sein Taschentuch hielt er noch in der Hand. Er Verließ das Zimmer,
ohne ein Wort zu sagen. Wenig später hörte ich, wie sich im Schloß zu meiner
Rechten der Schlüssel drehte. Ich fuhr herum. Nogees trat über die Schwelle. Er
warf einen kurzen Blick erst zu mir, dann zu Steimle. Dann öffnete er die Tür
weit, drehte sich um und ging wieder in die Kniebeuge. Schien ein Anhänger von
Freiübungen zu sein.
Erst jetzt bemerkte ich, daß der Raum
zwischen beiden Türen bedeutend größer war als zwischen denen zum Vorzimmer.
Die Mauer war viel dicker, daran lag es.
Nogees schnupperte wie ein Fuchs auf
der Schwelle herum. Seine Hand fuhr über das Holz. Kurze Zeit blieb er reglos
sitzen. Dann erhob er sich langsam. Seine Knie knackten leise.
»Ja«, sagte er zu mir. »Sie werden
erstaunt sein; aber die äußere Tür war offen.«
»Und die Schlüssel?« fragte ich
verwirrt.
»Stecken beide«, sagte er. »Der äußere
von innen und der innere von außen.«
»Verstehe ich nicht«, murmelte ich.
»Oh, es gibt ein paar Erklärungen
dafür«, sagte Nogees gleichmütig.
Steimles Augen verengten sich.
»Zum Beispiel?«
»Zum Beispiel die, daß der Mörder noch
zwischen den beiden Türen stand, als Doktor Thomsen dort hinaus und ihm nach
wollte.«
Steimle schüttelte unwillig den Kopf.
»Ich verstehe nicht, wie er entkommen sein soll, ohne daß ihn jemand gesehen
hat! Und — es käme dann ja nur ein Angehöriger des Hauses in Frage, der hier
genau Bescheid weiß. Ein Fremder verläuft sich rettungslos.«
»Wir werden das feststellen, Herr Oberarzt«,
sagte Nogees höflich. »Würden Sie so gut sein und in Ihrem Zimmer auf mich
warten? Ich komme zu Ihnen, wenn wir hier fertig sind.«
Steimle stand mit eckigen Bewegungen
auf. Er nickte kurz und wandte sich zum Schreibtisch. Dort blieb er stehen und
sah den Toten an. Seine Hand machte eine Bewegung, als wollte er ihn
streicheln. Dann ging er hinaus.
Als Nogees nicht sprach, fing ich an.
»Das da sieht genauso aus wie die
Bescherung in meinem Zimmer. Dasselbe Messer, dieselbe Stelle.«
»Derselbe Finder«, sagte Nogees
trocken.
»Haben Sie mich in Verdacht?« fragte
ich scharf.
»Habe ich das gesagt?« fragte er sanft
zurück.
Ich beruhigte mich wieder. »Nein,
murmelte ich.
»Was würden Sie an meiner Stelle
denken?«
»Mich für den Täter halten«, sagte ich
mürrisch. »Glauben Sie, es macht mir Spaß, hier eine Leiche nach der anderen zu
finden? Glauben Sie, jch bin hierhergekommen, um die halbe Stadt umzubringen?
Irgend jemand macht mir diese Freude. Aber heute hätte ich ihn beinahe
erwischt. Möchte bloß wissen, wohin sich der Kerl so schnell verflüchtigen
konnte. Er kann doch nur in eines der nächsten Zimmer gelaufen sein!«
»Ich glaube, er war noch näher«, sagte
der Kommissar.
»Noch näher? Wo?«
»Denken Sie an die Türen. Als Sie
probierten, waren alle beide verschlossen. Als ich probierte, war die äußere
nur eingeklinkt. Beide Schlüssel steckten nach dem Zwischenraum zu; sich
gegenüber.« Er legte seine Handflächen aneinander. »Es gibt nur drei
Erklärungen dafür. Nummer eins: Sie lügen. Die äußere Tür war nicht
abgeschlossen.«
Ich rührte mich nicht. Langsam gewöhnte
ich mich an seine Tour.
»Nummer zwei: Steimle schloß die äußere
Tür wieder auf, als Sie draußen mit mir telefonierten.«
»Warum sollte er das?«
»Damit ich denke, daß Sie lügen.«
Ich fing an, ihm seinen
Konfektionsanzug zu verzeihen.
»Nummer drei: Der Mörder stand zwischen
den Doppeltüren, als Sie an den Klinken rissen. Platz ist genug. Als Sie wieder
im Zimmer waren, schloß er die äußere Tür auf und verschwand.«
Es dauerte eine Weile, bis meine
Gedanken den seinen gefolgt waren. Dann sah ich, daß es nur so gewesen sein
konnte.
»Sie haben recht«, sagte ich. »Und
Nummer drei schließt Nummer zwei nicht aus.«
»In gewisser Weise doch. Wenn
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