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Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition)

Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition)

Titel: Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Shani Boianjiu
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langweilig. Sie war jetzt seit zwei Jahren mit Phillip zusammen, und wenn sie zur Kabine rechts neben sich schaute, sah sie das gerahmte Foto der Familie eines Fremden, die unterm Weihnachtsbaum saß, und sie sah sich als die Ehefrau, die das Kleinste hielt und zum Weihnachtsstern zeigte. Und wenn sie zur Kabine links von sich schaute, sah sie ein anderes gerahmtes Foto, und sie war wieder die Ehefrau, etwas dicker und diesmal rothaarig, umgeben von vier Jungen mit zu vielen Sommersprossen.
    Das Erste, was sie vom Schreibtisch einer der anderen Kabinen nahm, war ein Kuli. Er war rot und hatte Bissspuren, und sie legte ihn zwei Kabinen weiter rechts von dem Schreibtisch, auf dem sie ihn gefunden hatte. Aus dieser Kabine nahm sie einen Tacker und stelle ihn vier Kabinen weiter nach links. Aber keiner merkte etwas, obwohl sie eine Woche lang wartete und dann noch mal zwei Tage. Tief in ihrem Inneren wusste sie, dass sie sich früher oder später an den Fotos zu schaffen machen würde. Sie stellte sich nur zu gern vor, wie es wäre, wenn einer in der Kabine aufschaute und sah, dass die eigene Ehefrau nicht die eigene Ehefrau war, und die eigenen Kinder nicht die eigenen Kinder. Oder noch besser, wie es wäre, das Foto von einer anderen Familie auf dem Schreibtisch stehen zu haben und es nie zu merken.
    Und keiner merkte es. Und eine Woche verging, dann zwei Tage, dann ein Monat. Schon bald gehörte keines der gerahmten Fotos auf den Schreibtischen mehr dem eigentlichen Besitzer. Sie war gerade dabei, ein Rotationsprinzip einzuführen, und hatte eine ganze Nacht damit verbracht, die Fotos der Ehefrauen nach dem Schema blond, brünett, blond anzuordnen, als –
    »Du bist ein böses Mädchen, hab ich recht?«, hörte sie Julian hinter sich flüstern. Das Foto seiner Ehefrau war das Einzige, das sie nicht anrühren konnte, weil er sich nachts immer in seinem Büro einschloss. Aber noch etwas anderes sagte ihr, dass sie es nicht tun sollte. Dieses Etwas sagte ihr, dass sie diese Arbeit niemals hätte annehmen dürfen, und dass bei einer Arbeit, bei der man ganz allein bis Mitternacht mit seinem verheirateten Chef im Büro bleiben musste, nichts Gutes rauskommen konnte. Masha war immer ein kluges, aufmerksames Mädchen gewesen.
    Tu es nicht, Masha.
    Julian packte sie sanft am knochigen Handgelenk, aber Masha hielt den Bilderrahmen mit der Hand fest umklammert und sah ihm in die Augen. Sie atmete ein. Sie atmete aus. Sie atmete.
    So viel dazu.

    Als Tom und Gali sich in der Oberstufe zum ersten Mal küssten, schwor er sich, dass er ein solches Mädchen niemals gehen lassen würde. Und er ließ sie niemals gehen, nur als die Armee kam; da wollten Gali und er verschiedene Dinge; dann waren sie verschiedene Dinge; dann schienen sie ständig an verschiedenen Orten zu sein. Für Tom war seit seinem zehnten Lebensjahr klar, dass er mit so was wie Krieg nichts zu tun haben wollte. Im Gutachten des Amtsarztes, das ihn vom Einsatz in der Kampftruppe befreite, war von chronischer Migräne die Rede, und das Problem hatte auch wirklich mit seinem Kopf zu tun: Er zahlte 120   Schekel pro Monat, um sein rotbraunes Haar leuchten zu lassen, und er würde lieber sterben, als seine Haare einem Helm auszusetzen. Seine Augen hatten einen Grünton, den er mit ein bisschen Kajal jeden Morgen gut zur Geltung bringen konnte. Er wusste, er würde das nicht mehr machen können, wenn er Terroristen bekämpfen musste und das alles.
    Für Gali dagegen war seit ihrem zehnten Lebensjahr genauso klar, dass sie mit Waffen schießen, Sachen in die Luft jagen und Selbstmordattentätern nachrennen wollte. Gali wusste, dass ihre Eltern ihren Körper erschaffen hatten, und sie hoffte immer, dass ihr Körper einen Sinn hatte. Als sie alt genug war, zur Armee zu gehen, gab es zu ihrer Freude schon die erste Infanterie-Kampfeinheit, die fast nur aus Frauen bestand, und diese Gelegenheit konnte sie sich nicht entgehen lassen. Unabhängig vom ersten Eindruck war Gali wirklich gern mit Mädchen zusammen und unter ihren Mitschülerinnen trotz ihres Aussehens auch immer sehr beliebt gewesen. Aber sie konnte nicht wissen, dass dieser Versuchsballon einer frauenfreundlichen Einheit an der ägyptischen Grenze stationiert würde, an einer Grenze, an der es die letzten dreißig Jahre friedlich zugegangen war. Jetzt saß sie auf Wachtürmen fest, wo nie etwas passierte, und besetzte Checkpoints, wo die maximale Aufregung darin bestand, dass sie Schmuggler mit DVDs oder

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