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Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition)

Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition)

Titel: Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Shani Boianjiu
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unter.« Nadav sagt nur, dass man als Gott nicht rumlaufen und solchen Scheiß fabrizieren sollte. Das ist krank, genau das ist es.
    Das ist alles, was Offizier Nadav zu sagen hat. Ende der Diskussion.

    Man könnte meinen, Tom hätte den leichtesten Job im ganzen israelischen Militär, aber er wusste ganz genau, dass er eigentlich den schwersten Job auf der ganzen Welt hatte. Ja, er verbrachte seinen gesamten Wehrdienst in Tel Aviv, nur fünf Fußminuten von Azrieli entfernt, der größten und schillerndsten Mall in ganz Israel – schließlich lagen dort die Hauptquartiere der Armee und das Büro des Generalstabschefs; und er konnte jeden Abend um acht nach Hause gehen und sogar bei seinen Eltern schlafen, und alles, was er in den elf Stunden Dienstzeit zu tun hatte, war, an einem Holzschreibtisch zu sitzen und auf ein rotes Telefon zu starren. Aber hat irgendwer auch nur ansatzweise eine Ahnung, wie schwer es ist, ein rotes Telefon anzustarren, das nie klingelt? Jeden Tag von acht bis acht mit nur zwei dreißigminütigen Pausen, um zu essen und aufs Klo zu gehen? Drei Jahre lang? Wenn man mal nichts außer einem Telefon auf den Schreibtisch stellt und versucht, draufzustarren, dann weiß man ziemlich schnell, dass man das keine fünfzehn Minuten aushält.
    In Toms Büro gibt es vierunddreißig Arbeitskabinen, und zu seinem Glück sitzt er so, dass er die zwei Blätter einer Feigenpflanze und die Wanduhr sehen kann, wenn er sich streckt. Er hat mit sich selbst vereinbart, dass er erst in den letzten fünfzehn Minuten vor Dienstschluss an Gali denken darf. Vorher macht er alles mögliche andere. Er reißt sich die Augenbrauen aus. Er zählt mit dem lilafarbenen Zungenpiercing die Zähne ab. Er denkt an Katie Holmes, dann an Shakira. Aber die Tagträume von Gali erlaubt er sich erst in den letzten fünfzehn Minuten seiner Schicht. Er darf nicht, sonst tut es zu weh.
    Heute Abend sieht er Gali zum ersten Mal seit zwei Monaten, das könnte erklären, warum ihm sofort ein drittes Bein wächst, als er die Erinnerung an den Geruch ihres Herbal-Essences-Granatapfel-Shampoos zulässt, aber ehrlich gesagt wächst ihm immer eins, wenn er sich erlaubt, an sie zu denken. Am schlimmsten ist, wenn es in der Hälfte der Schicht wächst. Schon das kleinste Staubkorn in der stillen Büroluft konnte ein Niesen bei ihm auslösen und ihn daran erinnern, wie sie niesen musste, als er sie das letzte Mal gesehen hat – ihr strenger kupferroter Pferdeschwanz, der auf und ab wippte – und das war’s dann: Für die verbleibende Zeit seiner Schicht war er erledigt, und das tat weh.

    Weiß irgendwer, wie man »Tu es nicht« auf Ukrainisch sagt? Wir hätten Ukrainisch lernen sollen. Es hätte gereicht, einfach nur »Tu es nicht« sagen zu können. Das kleinste Bisschen hätte gereicht, um Masha an diesem Tag aufzuhalten. Ein so böses Mädchen war sie gar nicht.
    Obwohl Bereschany in der Ukraine eine Kleinstadt war, blieb Masha wegen ihrer Arbeit immer allein. Sie war dafür verantwortlich, die abgearbeiteten Bestellformulare für Schuhe, die an einem bestimmten Tag in der Fabrik angefertigt worden waren, zu nummerieren und zu archivieren, also hatte sie eigentlich erst dann Arbeit, wenn andere Leute schon etliche Stunden gearbeitet und die Schuhe produziert hatten. Sie musste nie vor zwölf im Büro sein, und manchmal ließ Julian es ihr auch durchgehen, wenn sie erst um eins kam. Sie konnte mit ihrer alten Mutter Mittag essen, die ihr einen Kuss auf die Stirn gab, wenn sie auf dem Weg hinaus auf der Türschwelle stand. Wenn sie über den Markt zur Arbeit lief, konnte sie beim Tomatenmann anhalten und zusehen, wie er die Tomaten zu einem perfekten Dreieck umschichtete und dann seufzend wieder von vorn anfing. Alle Kinder waren in der Schule, alle Eltern auf der Arbeit, und die einzigen Leute auf der Straße waren die Alten und Arbeitslosen, die ohne Eile und mit gedämpften Schritten umherwanderten. Alles war normal, nur leichter – als würde man eine Videoaufnahme des eigenen Schlafzimmers sehen, wenn man nicht da war.
    Anfangs blieb sie abends gern im Büro, wenn schon alle zu Hause waren und mit ihren Familien zu Abend aßen, um die Ablage der ausgefüllten Bestellformulare zu machen. In allen Kabinen um sie herum war es dunkel, und sie schloss die Augen und stellte sich vor, dass man aus der Luft im Büro nur zwei Lichtpunkte in der Dunkelheit leuchten sah – ihre Kabine und das Büro von ihrem Chef Julian.
    Aber dann wurde ihr

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