Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition)
Piraten-Prinzessinnen, zumindest sahen sie sich so.
Obendrauf lagen Orangen, und das war okay, weil man bei dieser Menge keinen Zoll zahlen musste. Aber unten im Karton lagen Hunderte von DVD-Raubkopien: Shrek 2 , Love Actually , Harold and Kumar ; auch Riding Miss Daisy und Gangbangs of New York .
»Offizier Nadav!«
»Nadav!«, riefen die Mädchen und sprangen aus dem Lastwagen.
Nadav stand auf, kam langsam auf die Mädchen zu und fuhr sich übers Kinn. Er war nur wenig größer als Gali und ungefähr dreißig Zentimeter größer als Avishag. Er legte ihr sanft die Hand auf die Schulter und drückte zu. Beim Sprechen klang er, als würde er auch seine Stimme zusammendrücken.
»Was gibt’s?«, fragte Nadav.
»Filme«, sagte Gali.
»Wie viele?«, fragte Nadav.
»So um die tausend«, sagte Gali.
»Dann ist es kein Problem«, sagte Nadav.
»Aber –«, versuchte es Avishag.
»Kein Aber. Wenn wir ihn festnehmen, dauert es Tage, bis einer von den Justizleuten kommt, eine Anzeige aufnimmt und die Filme einzieht. Er kommt im Handumdrehen wieder frei und versteckt sie beim nächsten Mal einfach besser«, sagte Nadav. Er sah die Mädchen nicht an, als er das sagte; er schaute auf seine Hand auf Avishags Schulter.
»Wir machen also wieder nichts?«, fragte Avishag, aber Nadav fuhr nur mit dem Zeigefinger hinter ihrem Ohr entlang und lächelte.
»Danke, ihr Schlampen«, rief Mustafa im Wegfahren, hinter ihm eine Staubwolke, die Avishag und Gali in Nase, Ohren, Mund und Poren drang.
Von den vierundzwanzig Stunden an jedem beliebigen Tag hatten Gali und Avishag sechs Stunden Schicht am Grenzübergang, acht Stunden Schicht auf dem Wachturm und die übrigen zehn Stunden konnten sie machen, was sie wollten. Aber man muss natürlich jeden Tag duschen (das wird kontrolliert), im Kantinen-Zelt essen (das wird nicht kontrolliert), das Gewehr reinigen und die Weste voll ausstatten (es heißt, das würde stichprobenartig kontrolliert, aber das kommt nie vor).
Und schlafen. Man muss schlafen.
Aber selbst dann blieb den Mädchen immer noch Zeit. Dann war da immer noch Zeit. Diese viele Zeit, die über ihnen schwebte.
»Du sagst, dass du mich liebst, aber du hörst mir nie zu«, sagte Avishag.
Sie war gern in diesem Raum. Abgesehen von dem Holzwagen mit den Duschen war dieser Offiziersraum der einzige Ort auf dem gesamten Stützpunkt, der kein Zelt war. Und er war auch nicht aus Holz; er war ein Raum aus weißen Rigipsplatten, die ein Traktor in diesem Niemandsland hier abgeladen hatte. Es gab sogar eine Grünpflanze, einen Schreibtisch und ein Sofa. Und man konnte von innen abschließen.
»Ich hör dir zu«, antwortete Nadav. Er legte sein M4 unter den Stuhl, setzte sich, bückte sich und zog die Militärstiefel aus.
»Ich begreife einfach nicht, warum wir überhaupt hier sind – wo wir doch nie irgendwas unternehmen«, sagte Avishag. »Und ich dachte, es würde was heißen, in der Kampftruppe zu sein. Ich dachte, wenn ich die Zeit vor den Monitoren hinter mir hätte, würde ich endlich mehr machen als nur tatenlos zuzusehen.«
»Süße, ich weiß, dass es schwer ist«, sagte Nadav. Er schaute auf seine schwarze Swatch und knöpfte sein grünes Militärhemd auf.
»Es ist schwer, weil du ein Arsch bist. Nie dürfen wir jemanden festnehmen. Dich interessiert nur, dass du genug Auszeiten hast. Und was, wenn die Mädchen vom Wachturm gerade jetzt versuchen, dich über Funk zu erreichen? Du hast dein Funkgerät noch nicht mal an. Und was, wenn wir erwischt werden? Außerdem kommst du nie vorbei, wenn ich Wachdienst habe, um nach mir zu sehen, und überhaupt –«, sagte Avishag. Es fühlte sich an, als hätte sie schon ewig nicht mehr so viel geredet.
Sie wollte weiterreden, aber Nadav kam zum Sofa rüber. Er legte sich auf sie und hielt sie an ihren dünnen Armen fest. »Shhh, hör mir mal zu«, sagte er und knabberte an ihrem Ohr.
»Das ist unfair«, sagte Avishag, aber schon versagte ihr die Stimme.
»Ich finde es auch unfair, dass ich auf euch kleine Soldatinnen aufpassen muss«, sagte Nadav. Er hielt ihr den Mund zu. »Glaubst du, mir gefällt es, der Offizier dieses ›Infanterie-Experiments für Frauen‹ zu sein? Glaubst du, ich hab mir das ausgesucht? An manchen Tagen habe ich nur deinetwegen überhaupt die Kraft, morgens die Uniform anzuziehen.«
Er hielt ihr weiter den Mund zu, obwohl er das nicht musste. Avishag wollte nichts sagen. Wie sie da so auf dem Sofa lag, fragte sie sich, wozu es überhaupt
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