Das Wahre Kreuz
»Suchst du das Beduinenmädchen oder das Wahre Kreuz?« Onkel Jean lächelte. »Ich bin zu alt für junge Mädchen, und außerdem bin ich, wie ihr auch, ein Mann des Glaubens, der sich der Liebe zu Gott und seinem Sohn Jesus Christus verschrieben hat.«
De Montjean sah meinen Onkel ungläubig an. »Ein Mann des Glaubens, du?«
»In Frankreich war ich der Abt eines großen Klosters, St. Jacques bei Pontoise, bevor die Revolution ausbrach und mit ihr die Barbarei der Ungläubigen und Unwissenden. Sie haben das Kloster gestürmt, seine Kunstschätze zerstört und die Bücher verbrannt.«
Thibaut du Lac sah ihn verständnisvoll an. »Was sich in Frankreich abgespielt hat, ist beschämend. Wir haben noch lange Unterstützung von einigen Klöstern und Vereinigungen dort erhalten, aber seit der Revolution ist auch diese Quelle versiegt. Es scheint, als habe Gott sich von den Menschen abgewandt.«
»Wir hegen ähnliche Gedanken, und aus ähnlichen Gründen suchen wir nach dem Kreuz Jesu«, fuhr Onkel Jean fort. »Auch ich will mit seiner Hilfe dem Glauben zum Sieg verhelfen. In Frankreich gibt es noch viele, die so denken wie wir, verschiedene Gruppen, die für die Wiedereinsetzung von Kirche und Königtum eintreten, allgemein Royalisten genannt. Wenn sie das Wahre Kreuz sehen, wird das ihren Glauben und ihre Entschlossenheit stärken. Dann wird es uns gelingen, die Revolutionäre aus dem Land zu jagen!«
Mein Onkel hatte mit wachsendem Enthusiasmus gesprochen, und einige der Ordensritter nickten zu-stimmend.
Ich dagegen war verwirrt. Zwar hatte ich stets ge-spürt, wie sehr ihn der Verlust des Klosters schmerzte, auch noch Jahre danach, doch hatte ich angenommen, er habe sich mit den neuen Verhältnissen und seinem Leben als Archäologe arrangiert. Immerhin begleitete er Bonaparte, eine Galionsfigur der jungen Republik, auf dessen Orientexpedition. Hatte Onkel Jean all die Jahre hindurch eine Maske getragen, von der sogar ich ge-täuscht worden war? Er mußte ein guter Schauspieler sein, daß er seine wahren Empfindungen so lange so gut vor mir hatte verbergen können.
»An Ihren Worten ist viel Wahres«, sagte der Groß-
meister. »Vor Jahrhunderten sind wir ins Heilige Land gezogen, um es den Ungläubigen zu entreißen. Jetzt aber haben sich Ungläubige in unserer Heimat breitge-macht, haben die Macht an sich gerissen und tun alles, um den Glauben an Gott zu erschüttern. Vielleicht ist die Zeit für einen neuen Kreuzzug gekommen, einen, der uns zurück in die Heimat führt.«
»Wir sollten uns verbünden«, sagte Onkel Jean.
»Zunächst muß das Abendland vom Unglauben befreit werden; erst dann können wir hoffen, daß eines Tages auch im Morgenland das Kreuz Christi angebetet wird!«
Zweifelnd sah ich meinen Onkel an. Meinte er wirklich, was er da sagte? Wenn dies seine wahren Absichten waren, dann mußte er zutiefst verbittert sein, vielleicht gar von Haß zernagt.
Der Großmeister holte tief Luft. »Das alles will reiflich überlegt sein. Ich werde mich mit meinen Brüdern und mit Gott beraten.«
Zum ersten Mal seit seinem Eintreten bemerkte ich einen Anflug von Unsicherheit auf Onkel Jeans Gesicht.
»Überlegt nicht zu lange, sonst könnte es zu spät sein!
Bonaparte und seine Armee werden bald vor dieser Festung auftauchen.«
De Montjean trat auf ihn zu. »Woher weißt du das?
Hast du uns verraten?«
Mein Onkel schüttelte den Kopf und wandte sich an mich. »Hast du die Landkarte, Bastien?«
Ich zog sie aus meinem Rock und gab sie ihm. Onkel Jean breitete sie auf dem Tisch aus und erklärte den Ordensrittern ihre Bedeutung.
»So haben Sie uns also gefunden«, stellte du Lac fest.
»Hat Bonaparte auch so eine Karte?«
»Nein«, sagte mein Onkel. »Aber er weiß von dem Mann, der uns die Karte gegeben hat. Vermutlich wird er ihn zum Reden bringen, und sei es mit Gewalt.«
»Gegen seine Armee können wir niemals siegen«, seufzte der Großmeister. »Das könnten wir selbst dann nicht, wenn wir zahlreicher wären. Trotzdem dürfen wir keine übereilten Entschlüsse fassen. Morgen reden wir in Ruhe über alles. Bis dahin muß ich Sie, zu unserer Sicherheit, leider einsperren.«
Was ich in der vergangenen Stunde erfahren hatte, besonders von meinem Onkel, hätte mich unter anderen Umständen wohl aus der Fassung gebracht. Jetzt aber war ich merkwürdig ruhig, vielleicht weil ich wuß-
te, daß mir die Hände gebunden waren.
Mich beschäftigte nur eine Frage: »Kann ich Ourida
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