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Das Wahre Kreuz

Das Wahre Kreuz

Titel: Das Wahre Kreuz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Kastner
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mein Leben aushauchen. Seltsam, aber genau so fühlte ich es. Die Frau aus der Wüste, deren Herkunft und Geschichte niemand von uns kannte, die nicht mit uns sprach und nicht zu erkennen gab, was sie von uns hielt, war mir sonderbar lieb und vertraut geworden. Wie ein Mensch, den ich lange vermißt und endlich wiedergefunden hatte – und den ich um nichts in der Welt ein zweites Mal verlieren wollte.
    Meine Erregung war Onkel Jean nicht entgangen, das verriet sein fragender Blick. Also erzählte ich ihm von meinem Verdacht, daß die Entführer Ourida zu dem Tempel zurückbringen könnten, um das über sie verhängte Urteil zu vollstrecken.
    Mein Onkel nickte leicht. »Das wäre nicht das Schlechteste, was ihr widerfahren könnte.«
    »Was sagen Sie?« rief ich empört und wohl reichlich laut, zu laut, wie ich an den überraschten Gesichtern der Soldaten erkannte. »Wünschen Sie Ourida den Tod?«
    »Unsinn, Bastien. Aber dann wüßten wir, wo wir sie finden. Wenn man sie aber an einen uns unbekannten Ort bringt, dürfen wir kaum hoffen, ihr beistehen zu können.«
    Er wandte sich an Kalfan: »Sergeant, schicken Sie einen Boten zu General Bonaparte, der ihn von dem Vorfall in Kenntnis setzt. Lassen Sie dem General ausrichten, ich hielte es für das beste, sofort einen Trupp Kavallerie zu dem Wüstentempel zu entsenden.«
    Während der Sergeant bereits einem seiner Männer die Aufgabe übertrug, wunderte ich mich, daß mein Onkel sich mit der Sache an die höchste Instanz wandte. Doch es war zweifellos eine gute Entscheidung.
    Wenn Bonaparte dem Rat meines Onkels folgte, würden innerhalb kürzester Zeit Soldaten zum Tempel reiten – ein anderer Offizier hätte erst die Erlaubnis seines Vorgesetzten abwarten müssen. So konnte ich nur hoffen, daß Bonaparte die Angelegenheit als dringlich genug ansah.

    Als Kalfan seinen Männern befahl, noch einmal Haus und Grundstück gründlich zu durchkämmen, suchte ich niedergeschlagen mein Zimmer auf. Ich setzte mich aufs Bett und versuchte, meine wirren Gedanken zu ordnen. Vergebens bemühte ich mich, hinter den Ereignissen der vergangenen Tage einen Sinn zu erkennen. Ich fühlte mich wie in einem nicht enden wollen-den Fiebertraum gefangen.
    Während der Überfahrt nach Ägypten hatten alle an Bord unseres Schiffs in einer Weise von dem fremden, geheimnisvollen Land gesprochen, die Neugier auf den Zauber des Morgenlands und auf unbekannte Abenteuer erkennen ließ. Ich selbst konnte mich davon nicht ausnehmen. Aber an Abenteuer wie jene, die jetzt über mich hereingebrochen waren, hatte ich in meinen kühnsten Träumen nicht gedacht. Ein Geräusch hinter mir ließ mich herumfahren, und ich erschrak, als sich eine Gestalt vor mir aufrichtete, die unter dem Bett versteckt gelegen haben musste. Mein Erschrecken verwandelte sich in Sekundenschnelle in Erleichterung.
    Vor mir stand Ourida!
    Wie war das möglich? Ich rieb mit dem Handrücken über meine Augen, um sicherzugehen, daß ich nicht das Opfer eines Trugbilds wurde, einer Selbsttäuschung, die mir vorgaukelte, was ich verloren glaubte. Aber Ourida verschwand nicht, war keine Fata Morgana, sondern ein Wesen aus Fleisch und Blut. Ihr Haar war etwas durcheinandergeraten, und Unsicherheit, vielleicht sogar eine gewisse Furcht, flackerte in ihren Augen.
    Mir wurde klar, daß sie sich in mein Zimmer ge-flüchtet hatte, nachdem der Schuß im Garten gefallen war. Hatte sie aus purem Zufall mein Zimmer als Versteck gewählt? Aber das war jetzt zweitranging. Wichtig war in diesem Augenblick nur, daß sie lebte und augenscheinlich unverletzt war. Ich ging um das Bett und schloß sie in die Arme, was sie geschehen ließ, oh-ne sich auch nur ansatzweise zu sträuben. Sie legte ihre Wange an meine Schulter, wie um dort auszuruhen, und ich genoß den süßen Duft, den ihr Haar und ihre Haut verströmten. Ihr warmer, weicher Leib in meinen Armen tat mir gut, alle Anspannung und Sorge wichen von mir. Eine beglückende Geborgenheit ergriff von mir Besitz. Nur selten hatte ich so etwas gespürt. Vielleicht als kleines Kind, wenn ich abends bei meinen Eltern saß. Später war hin und wieder eine ähnliche Empfindung über mich gekommen, wenn Onkel Jean mir nahe war und ich in ihm einen Ersatz für den Vater zu erblicken glaubte, den ich so früh verloren hatte.
    Doch was sich jetzt in mir regte, war noch mehr, reichte noch weiter. Ich fühlte mich wie ein Wanderer, der nach vielen Jahren der Einsamkeit in den trauten Schoß seiner Familie

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