Das Wahre Kreuz
Märchenerzähler auftreten könnten. Die Frau hat seit ihrer Rettung nicht gesprochen?«
»Nur das Wort Ourida, ihren Namen, wie wir vermuten.« Nachdenklich blickte Maruf ibn Saad ins Leere und sagte dann: »Ich erinnere mich an einen alten Reisebericht, der aufschlußreich sein könnte. Bitte entschuldigen Sie mich einen Augenblick.«
Als er den Raum verlassen hatte, fragte ich meinen Onkel:
»War es wirklich klug, ihn in alles einzuweihen?«
»Traust du unserem ägyptischen Freund nicht?«
»Wissen wir denn sicher, daß er unser Freund ist? Ist er es nicht, haben wir unseren Feinden vielleicht gerade das verraten, was Abuls Mörder herausfinden sollte.«
»Du meinst Ouridas Aufenthaltsort.«
Ich nickte.
»Maruf ibn Saad ist nicht dumm, im Gegenteil. Sollte er wirklich mit unseren Feinden verbündet sein, würde ihm nicht lange verborgen bleiben, daß Ourida in seiner unmittelbaren Nachbarschaft wohnt. Insofern habe ich ihm nichts verraten, was er nicht ohnehin leicht herausgefunden hätte. Ist unser Gastgeber aber ein echter Freund, können sein Wissen und seine Bezie-hungen uns sehr nützlich sein.«
Der Ägypter kehrte mit einem dünnen Buch zurück, das er nun vorsichtig aufschlug. Ich sah arabische Schrift; Wasserflecken hatten etliche Stellen verwischt.
»Das ist der Bericht eines Kaufmanns, der vor ungefähr fünfzig Jahren mit einer Karawane von Kairo nach Medinet gereist ist. Ich habe mich an eine Stelle erinnert, die mir beim ersten Lesen vor langer Zeit aufgefallen ist. Ich hatte es fast vergessen, bis Sie mir von Ihrem Abenteuer mit den Rittern erzählten, Professor. Leider kann man nicht mehr alles entziffern, aber ich will Ihnen die betreffende Stelle, soweit sie erhalten ist, über-setzen.«
»Sehr gern«, sagte Onkel Jean und blickte, wie ich auch, unseren Gastgeber erwartungsvoll an.
»… stellte ich zwei Tage nach unserem Aufbruch fest, daß unser Führer die Karawane einen Bogen einschlagen ließ, obwohl die Wüste vor uns ohne Gefahr war. Hier drohten meiner Kenntnis nach weder Treib-sand noch Überfälle von Wüstenräubern. Also stellte ich den Führer zur Rede. Seine Erklärung erschien mir überaus seltsam, sprach er doch von den Geistern der Ungläubigen, der Kreuzfahrer, die auferstanden seien und an diesem Ort ihr Unwesen trieben. Erst wenige Monate zuvor hätten sie eine andere Karawane …«
Maruf ibn Saad überflog noch ein paar weitere Seiten, bevor er die Aufzeichnungen des Kaufmanns wieder zuschlug. »Mehr wird über die seltsamen Geister der Kreuzfahrer nicht gesagt. Was mit der anderen Karawane geschehen ist, bleibt wegen des Wasserschadens an diesem Buch leider im dunkeln. Aber unser Kaufmann scheint den Wüstengeistern nicht begegnet zu sein, hat er seine Reise doch glücklich vollendet und hinterher diesen Bericht verfaßt.«
»Sehr aufschlußreich«, sagte ich. »Die Richtung der Handelskarawane stimmt mit der unseren auf dem Weg zu dem Tempel überein.«
Mein Onkel warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu, und ich erkannte meine Torheit. Gerade hatte ich, der ich noch wenige Minuten zuvor Onkel Jean zur Vorsicht gegenüber unserem Gastgeber ermahnt hatte, verraten, wo der Tempel zu suchen war. Von meinem Onkel hatte Maruf ibn Saad bereits gehört, wie weit es ungefähr bis dahin war, so daß es ihm jetzt möglich war, die grobe Lage zu bestimmen.
»An Wüstengeister glaube ich nicht«, sagte mein Onkel. »Die Ritter, die uns angegriffen haben, waren aus Fleisch und Blut. Aber die Aufzeichnungen des Kaufmanns belegen, daß sie schon länger ihr Unwesen treiben, vielleicht seit dem Mittelalter.«
»Eine interessante Überlegung«, erwiderte Maruf ibn Saad. »Ich werde meine Bibliothek nach weiteren Aufzeichnungen über diese sonderbaren Ritter oder Geister durchsuchen und Ihnen Bescheid geben, sobald ich etwas finde.«
Onkel Jean bedankte sich. »Ich möchte Ihre freundliche Einladung erwidern, Maruf ibn Saad. Wollen Sie meinen Neffen und mich heute nachmittag in die Bibliothek des Instituts begleiten? Vielleicht finden wir dort Schriften, die uns weiterhelfen.«
»Sehr gern«, sagte der Ägypter erfreut.
Wir vereinbarten einen Zeitpunkt für unser nachmittägliches Treffen und verabschiedeten uns. Kaum waren wir aus der Tür des Gelehrten getreten, schraken wir zusammen: Ein Schuß fiel, ganz in der Nähe!
»Das kam aus unserem Garten!« rief ich und rannte los. Mein Onkel war mir dicht auf den Fersen. Im Garten sah ich einen der Grenadiere, die unser Haus
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