Das Wahre Kreuz
Sprache. Mit keinem Wort erwähnte Maruf das Verhalten seiner Tochter, und er erkundigte sich auch nicht nach dem Vorfall auf unserem Anwesen, obwohl er zweifelsohne etwas davon mitbekommen haben mußte. Veranlaßte ihn die Höflichkeit, derart zurückhaltend zu sein? Oder mußte er nichts fragen, weil er ohnehin gut unterrichtet war?
Noch immer schwelte in mir der Verdacht, er könnte auf die eine oder andere Weise etwas mit dem Vorfall zu tun haben. Aber ich konnte nichts beweisen, es blieb ein bloßer Verdacht.
Als wir die Eingangshalle der Bibliothek betraten, verlangsamten sich Marufs Schritte, und vor der Tür zum Lesesaal blieb er fast stehen.
»Nur keine Scheu«, ermunterte Onkel Jean unseren Gast. »Ein Gelehrter wie Sie ist hier stets willkommen.
Die Bibliothek steht jedermann, der sein Wissen zu er-weitern sucht, offen.«
»Jedermann?« fragte Maruf. »Gilt das auch für den einfachen Soldaten oder den gemeinen Diener?«
»Selbstverständlich«, antwortete ich. »In Frankreich ist das Volk für die Gleichheit aller auf die Straße gegangen und hat sein Blut vergossen für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Jedermann hat das Recht, zu lesen und zu lernen.«
»Das ist lobens- und bewundernswert«, seufzte der Gelehrte. »Aber Sie haben mein Verhalten falsch gedeu-tet. Ich habe meine Schritte nicht aus Scheu verlangsamt, sondern aus Ehrfurcht vor den versammelten Gedanken so vieler kluger Männer, deren wir gleich teilhaftig werden. Ich habe ein stilles Gebet zu Allâh gesandt zum Dank dafür, daß er mich durch Sie, meine Freunde, hergeführt hat.«
Wir betraten den großen Lesesaal, in dem nicht sonderlich viel Betrieb herrschte. Die meisten Stühle an dem langgestreckten Tisch waren leer. Nur eine Handvoll französischer Gelehrter und zwei oder drei Offiziere widmeten sich schweigsam ihrer Lektüre. Sie schau-ten zu uns auf, ein wenig länger vielleicht als sonst, weil ein Ägypter hier wohl willkommen, aber doch kein alltäglicher Anblick war. Mein Onkel war ein bekannter Mann, und ein paar der Besucher nickten ihm zu, was er lächelnd erwiderte. Wir setzten uns, wobei Onkel Jean und ich Maruf in die Mitte nahmen. Man sah, daß er es nicht gewohnt war, auf einem Stuhl zu sitzen.
Mein Onkel wandte sich in dem hier üblichen Flü-
sterton an ihn. »Gibt es ein bestimmtes Buch oder ein besonderes Wissensgebiet, das Sie interessiert, mein Freund?«
»Sind hier Bücher über die Kreuzritter zu finden?«
»Eine ausgezeichnete Idee. Die gibt es ganz sicher.«
Maruf blickte sich forschend um. »Dann müssen wir sie suchen.«
»Das wird nicht nötig sein«, entgegnete Onkel Jean mit einem kleinen Lächeln. »Es gibt Angestellte, die das für uns erledigen. Sie kennen sich bestens aus.«
Er winkte einen der Bediensteten heran, um ihm unseren Wunsch vorzutragen.
Der Mann verschwand zwischen den langen Reihen hoher Regale und kehrte schon wenige Minuten später mit einem Stapel Bücher zurück, den er mit elegantem Schwung vor uns auf den Tisch legte. Gleich darauf begann er nach weiteren Büchern über die christlichen Kreuzfahrer im Heiligen Land zu suchen.
Maruf sah ihm nach und nickte anerkennend. »Die Franzosen haben ihr Bibliothekswesen gut organisiert, wie alles, was sie tun. So fällt es leicht, sich Wissen an-zueignen.«
»Wissen ist Macht«, erwiderte Onkel Jean. »Das hat allerdings kein Franzose gesagt, sondern ein Engländer.«
Wir steckten unsere Nasen in die Bücher. Ich las die französische Übersetzung einer Abhandlung über die Geschichte der Kreuzzüge, verfaßt von einem niederländischen Gelehrten im Jahr 1669. Er berichtete über den ersten Kreuzzug normannischer und lothringischer Ritter, die im Jahr 1099 den Ungläubigen die Stadt Jerusalem entrissen, aus der daraufhin ein christliches Königreich wurde. Dann ging er über zum zweiten Kreuzzug in der Mitte des zwölften Jahrhunderts, ausgelöst durch den Verlust Edessas an die Seldschuken; insgesamt ein Feldzug, in dem sich die christlichen Heere wenig ruhmreich schlugen. Erfolgreicher erschien da der dritte Kreuzzug, der im Jahr 1187 zur Rückeroberung des an den ägyptischen Sultan Saladin gefallenen Jerusalem führte, gefolgt von der Einnahme Akkons anno 1191 durch den englischen König Richard Lö-
wenherz und den französischen König Philipp II. August.
Vor meinen Augen verschwammen die Buchstaben und wichen Bildern, die mir wie Illustrationen des eben Gelesenen erschienen und gleichzeitig so plastisch vor
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