Das Wahre Kreuz
und es war mir auch nicht wichtig. Aber ich hielt das reglose Bündel hoch, das ich schon die ganze Zeit mit mir herumtrug.
»Helfen Sie ihr, bitte!«
»Wer ist das?«
»Rabja.«
»Rabja?«
»Ein Mädchen.«
»Europäerin?« fragte Lannes zweifelnd.
»Einfach ein Mädchen. Sie braucht dringend ärztliche Hilfe. Bitte!«
Der General richtete sich auf und bellte: »Einen Arzt, schnell!«
Vorsichtig ging ich in die Knie und legte Rabja auf den Boden. Noch immer hielt sie die Augen geschlossen, als wollte sie nicht ein zweites Mal mit ansehen, wie ihre Leute massakriert wurden. Um uns herum waren Dragoner und Husaren, die sich vergewisserten, ob die am Boden liegenden Beduinen auch wirklich tot waren. Wo das nicht der Fall war, halfen sie mit einem schnellen Säbelhieb nach.
»Die Beduinenkrieger …« brachte ich mit brüchiger Stimme heraus.
»… sind besiegt«, verkündete Lannes voller Stolz.
»Der Angriff ist ganz nach Plan verlaufen. Keine Sorge, Topart, Sie haben von den Entführern nichts mehr zu befürchten!«
»Entführer?«
Mehr konnte ich nicht sagen. Stumm schüttelte ich den Kopf angesichts des Elends um mich her.
Ein Arzt kam herangeritten, stieg von seinem Braunen und nahm verwundert zur Kenntnis, daß seine Pa-tientin ein Beduinenmädchen war.
Entrüstet wandte er sich an Lannes: »Aber, Bürger General, dort hinten liegen mehrere Grenadiere, deren Wunden noch versorgt werden müssen!«
»Das kommt noch«, erwiderte Lannes mit unbewegter Stimme. »Jetzt kümmern Sie sich um das Mädchen, Doktor!« Es war eindeutig, daß der General keinen Widerspruch duldete. Auch wenn ich meine letzte Begegnung mit ihm in unangenehmer Erinnerung hatte, in diesem Augenblick war ich ihm so dankbar, daß er alles von mir hätte verlangen können.
Der Militärarzt ließ sich neben Rabja nieder und untersuchte sie nur kurz, bevor er sich zu Lannes umwandte und sagte:
»Ich kann dem Mädchen nicht mehr helfen, Bürger General. Es ist tot.«
Tot.
Das Wort traf mich schlimmer als ein Säbelhieb. Ich dachte daran, wie ich mit Rabja Ball gespielt und wie ich ihr die ersten französischen Worte beigebracht hatte. Ich dachte an ihr glucksendes Lachen, das in mir die Hoffnung erweckt hatte, sie würde über den schrecklichen Tod ihrer Eltern hinwegkommen.
Ich packte den Arzt am Kragen und schüttelte ihn.
»Das kann nicht sein! Sie müssen sie gründlicher untersuchen. Eben habe ich noch ihren Puls gefühlt!«
Der Arzt löste sich von mir und trat einen Schritt zu-rück. »Es tut mir leid, Bürger, aber ich kann Ihnen nichts anderes sagen. Das Mädchen ist tot. Wenn eben noch Leben in ihr war, so war es ein letztes Aufflackern.
Sie hat eine schwere Kopfverletzung. Ein Erwachsener hätte das vielleicht überstanden, aber so ein Kind …« Er schüttelte den Kopf und stieg wieder aufs Pferd. »Bürger General, mit Ihrer Erlaubnis kümmere ich mich jetzt wieder um unsere Verwundeten.«
Lannes nickte knapp, und der Arzt trieb sein Pferd an. Ich hockte mich neben Rabja und drückte ihr Gesicht an meine Brust. Meine Hände färbten sich rot von ihrem Blut. Tränen rannen mir übers Gesicht, und ich gab mir keine Mühe, es vor den Soldaten zu verbergen.
»Was immer dieses Kind Ihnen bedeutet haben mag, Bürger Topart«, sagte General Lannes, »seien Sie meines aufrichtigen Beileids versichert.«
»Darf ich Sie um etwas bitten, Bürger General?«
»Um was?«
»Ich möchte, daß Rabjas Leichnam auf ordentliche Weise bestattet wird, so, wie ihr Glaube es verlangt, mit dem Gesicht nach Mekka.«
Lannes wandte sich an den Dragoneroffizier neben ihm.
»Leutnant, Sie werden sich darum kümmern. Au-
ßerdem brauche ich ein Pferd für den Bürger Topart.«
»Jawohl, General.«
Auf Befehl des Leutnants brachte ein Dragoner ein reiterloses Kavalleriepferd. Nur mit großer Anstrengung schaffte ich es in den Sattel. Ich fühlte mich am Ende meiner Kräfte. Lannes bat mich, ihn zu begleiten, und wir entfernten uns vom Ort der blutigen Auseinandersetzung.
Zwiespältige Gefühle begleiteten mich. Ich kam mir vor wie ein Verräter, weil ich Rabja, Jussuf und all die anderen hier zurückließ. Um mich zu beruhigen, hämmerte ich mir förmlich ein, daß ich ihnen nicht mehr helfen konnte. Und ein Teil von mir war sogar froh, von dem Ort wegzukommen, an dem die Leichen all jener lagen, die am Abend zuvor noch so voller Lebens-freude gewesen waren.
Der morgendliche Donner hatte die Oase in eine Stätte des Todes
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