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Das Wahre Kreuz

Das Wahre Kreuz

Titel: Das Wahre Kreuz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Kastner
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überfallen wurden, hatte es wenigstens einen Kampf Mann gegen Mann gegeben und damit eine Aussicht, den Feind zu überwinden. Aber wie sollte ich gegen den vielfachen Tod ankämpfen, den die Kanonen drüben im sicheren Schutz der Felsen aus-spuckten? Ich hatte schreckliche Angst um Rabja, die mir so ans Herz gewachsen war.
    Rechts von mir riß eine Rundkugel ein weiteres Zelt ein, und ein gutes Stück weiter links wirbelte eine ex-plodierende Granate den Boden auf, während ich durch die Überreste von Jussufs Zelt taumelte und in den Trümmern verzweifelt nach einem Anzeichen von Leben Ausschau hielt.
    Mein linker Fuß stieß gegen etwas Großes, Weiches, das unter einem Fetzen Kamelwolle lag, einem Teil des Zeltes. Ich riß das Tuch beiseite und starrte auf einen zusammengekrümmten Leib, der in einer Blutlache mehr schwamm als lag. Es war Muna, und sie war tot.
    Ihr runzliges Gesicht war im Schreck erstarrt. Die Granate, die das Zelt getroffen hatte, hatte ihr den halben Leib weggerissen. Ihre knotige Rechte zeigte mit aus-gestreckten Fingern nach rechts, als hätte sie im Augenblick des Todes noch nach etwas greifen wollen.
    Mein Blick ging in dieselbe Richtung und fiel auf einen Trümmerhaufen aus Kochutensilien, zerbrochenen Zeltstangen und Stücken des Zelttuches. Ich wühlte mich durch diesen Haufen – und fand Rabja!
    Das Glücksgefühl des ersten Augenblicks verwandelte sich schlagartig in Bestürzung. Reglos lag sie vor mir, auf dem Bauch, das Gesicht zur Seite gedreht und die Augen geschlossen. Nichts deutete darauf hin, daß noch Leben in ihr war. Am Hinterkopf war ihr Haar blutverschmiert. Vorsichtig tastete ich mit meinen schmutzigen Fingern darüber. Es kam mir nicht vor wie eine Wunde von Granatsplittern, eher so, als sei infolge der Explosion ein schwerer Gegenstand gegen ihren Kopf geschlagen.
    Vorsichtig drehte ich sie herum, bemüht, dem kleinen, zerbrechlichen Körper nicht noch mehr Schaden zuzufügen. Weitere Wunden konnte ich nicht entdek-ken, aber ihr Kopf fiel wieder zur Seite, die Augen blieben geschlossen, und sie schien nicht zu atmen.
    Ich fühlte ihren Puls und stockte. Hatte ich da nicht etwas gespürt? Doch, wahrhaftig, es war noch Leben in Rabja! Sofort war ich von einem einzigen Gedanken erfüllt: Wie konnte ich sie von hier fortbringen, ir-gendwohin, wo sie vor dem unablässigen Beschuß sicher war und wo man sich um sie kümmern würde?
    Hastig blickte ich mich um und hielt nach Hilfe Ausschau, doch ich sah nichts als verwundete oder erschüttert umherirrende Beduinen.
    Wo war Jussuf? Wenn er sich zu Beginn des Angriffs im Zelt aufgehalten hatte, lag er vielleicht auch irgendwo hier unter den Trümmern. Möglicherweise brauchte er Hilfe. Meine ganze Sorge aber galt Rabja. Vorsichtig hob ich sie hoch. Sie erschien mir federleicht – viel zu leicht und zu klein, um zu sterben.
    Der Beschuß schien nur von einer der beiden Felswände zu kommen, von der im Nordosten. Also lief ich mit Rabja in die entgegengesetzte Richtung. Immer noch schlugen Geschosse ein, zerstörten das Beduinenlager, zerfleischten und töteten seine Bewohner. Doch ich ging unbeirrt weiter, über den aufgepflügten Boden, stieg über Schutt, Leichen und jammernde Verwundete, das Kind auf meinen Armen, denn ich wußte: Ich konnte nichts anderes tun. Von links hörte ich seltsame Ge-räusche, die lauter wurden und sich gegen den Geschützdonner durchzusetzen begannen: Trommelwirbel und den gleichmäßigen Tritt unzähliger Füße in festen Soldatenschuhen. Die Sonne kletterte über die Felsen und warf ihr rötliches Licht auf eine heranrückende Masse blau-weißer Uniformen, die aus der Morgendämmerung heraustrat wie eine Armee aus dem Jenseits.
    Ich blieb stehen und kniff die Augen zusammen. Sah ich das wirklich? Oder erlagen mein erschöpfter Leib und meine überreizten Sinne einem Trugbild? Eine lebende Mauer aus Soldaten, die fast die ganze Breite des Tals ausfüllte, marschierte zum dröhnenden Klang der Trommeln direkt auf mich zu. Als ich die Fahne mit den Farben der Revolution – Blau, Weiß und Rot –
    über ihren Köpfen wehen sah, verflog der letzte Zweifel: Es waren Franzosen!
    Sie trugen ihre Hüte mit den Spitzen zur Seite, en ba-taille, zur Schlacht bereit. In diesem ägyptischen Tal wirkte ihre präzise, auf Dutzenden europäischer Schlachtfelder erprobte Formation völlig fehl am Platz.
    Wenn nicht aus dem Jenseits, so kamen sie doch aus einer anderen Welt. Fassungslos fragte ich mich, was

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