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Das wahre Leben

Titel: Das wahre Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Moser
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kämpfen. Sie hatte den Kampf aufgegeben. Sierra wühlte weiter in ihrer Tasche und fand eine schmale Lesebrille. Ganz spurlos gingen die Jahre doch nicht an ihr vorbei.
    Â«Also: Wie heißen diese Damen noch mal?», fragte sie.
    Â«Renate Rothenbühler und … Sonja? Nein, Silvia Siebenthaler.»
    Sierra schaute auf. «Wie bitte? Sag das noch mal.»
    Nevada wiederholte die Namen. «Silvia», sagte sie. «Da bin ich ziemlich sicher. Aber wenn du willst, schau ich in meinem Ordner nach.»
    Sierra schüttelte den Kopf. «Sind sie das?» Sie reichte Nevada das Tablet und nahm dafür ihren Joint wieder entgegen. «Du musst das Bild größer machen», sagte sie.
    Ungeschickt fuhr Nevada mit den Fingern über den Bildschirm, die klebrig waren vom Eis und sich taub anfühlten. Heute waren es die Hände, morgen würden es wieder die Füße sein.
    Plötzlich schaute Renate Rothenbühler sie direkt an. Ihre Pupillen waren rot, vom Blitzlicht verfärbt. Ihre Wangen glänzten, sie hielt ein Champagnerglas in der Hand.
    Â«Wo hast du das her?»
    Â«Das ist von der Eröffnung.» Frau Rothenbühler war umringt von Frauen, schräg hinter ihr stand die Siebenthaler. Stark geschminkt, mit einer Federboa um den Hals, Nevada hätte sie beinahe nicht erkannt. Sierra schob das Bild zur Seite, auf dem nächsten sah man zwei gutgekleidete Männer in einer Gruppe von Frauen stehen. Die Männer lächelten ein wenig angestrengt. Die Frauen hatten ihre Hände überall.
    Â«Ich habe ja ganz bewusst keine Pressefotografen zugelassen. Aber wir haben unsere eigenen Bilder gemacht, für die Internetseite, für die Werbung. Ich bin gerade dabei, die Persönlichkeitsrechte abzuklären. Alle Gäste haben ein Formular ausgefüllt. Darauf konnten sie ankreuzen, ob sie mit der Veröffentlichung von Bildmaterial einverstanden sind oder nicht, und wenn ja, für welche Zwecke. Jetzt frage ich überall noch einmal nach, denn Diskretion ist in diesem Bereich natürlich oberstes Gebot. Ehrlich gesagt, war ich darauf gefasst, dass die meisten ihre Zustimmung zurückziehen würden, bei Tageslicht und nüchtern überlegt. Aber die meisten stimmten zu. Vor allem unsere speziellen Gäste. Die bestehen zum Teil sogar darauf, abgebildet zu werden.»
    Â«Und spezielle Gästen sind …?»
    Â«Solche wie du, Schwesterlein.» Sierras Ton war mild. Sie ließ sich nicht provozieren. Sie nahm Nevada die Behindertenmasche nicht ab, und sie ließ sie nicht damit durchkommen. «Wie’s der Zufall will, war ich heute genau damit beschäftigt. Ich stellte die Bilder für unsere Homepage zusammen, und ich fragte bei jeder einzelnen Kundin nach, ob sie mit der Veröffentlichung einverstanden sei. Deshalb hab ich die Namen erkannt: Ich habe heute Morgen mit beiden gesprochen.»
    Â«Und? Haben sie zugesagt?»
    Â«Ja, sie waren einverstanden, beide. Das hat mich überrascht, bei städtischen Angestellten. Sind ja eigentlich Beamte. Mit einer davon hab ich sogar noch darüber gesprochen, ich weiß jetzt nicht mehr, mit welcher. Sie meinte, erpressbar sei nur, wer sich verstecke, und dazu sehe sie keinen Anlass. Sie schäme sich nicht für ihre Bedürfnisse. Coole Einstellung, dachte ich noch.»
    Â«Aber wenn sie nicht erpressbar ist, was nützen mir dann diese Bilder?»
    Â«Nevada! Wir wollen doch niemanden erpressen.»
    Nevada verstand nicht. «Was wollen wir dann? Kämpfen?»
    Sierra steckte ihr iPad wieder weg. «Ich hab doch gesagt: Erst musst du wissen, was sie wollen. Und das wissen wir jetzt.»
    Â«Aber das hat doch nichts mit dem Projekt zu tun!»
    Â«Schwesterchen: Alles hat mit allem zu tun. Hat man dir das in der Yogalehrerschule nicht beigebracht?»
    Nevada fischte einen Eiswürfel aus ihrem Glas und warf ihn nach Sierra. Wieder verfehlte sie ihre Schwester um einen halben Meter. Der Eiswürfel flog über das Balkongeländer.
    Â«Hey, pass auf, so kann man … jemanden erschla…gen!»
    Dante stand hinter ihr. Er roch müde und nach Arzt. Nevada lehnte sich an ihn, ihr Körper neigte sich ihm entgegen. Sie hob beide Hände, um seine Arme festzuhalten, die sich genau so reflexhaft um sie geschlungen hatten. Sie waren ein Körper mit zwei Teilen. Zwei defekten Teilen.
    Â«Na, ihr Süßen, dann lass ich euch mal.» Sierra stand auf. Ihr Tonfall klang

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