Das wahre Leben
«WeiÃt du überhaupt, wie man kämpft?»
«Wie man kämpft?» Nevada ruckelte an ihrem Rollstuhl. «Was glaubst du, wie ich hiermit durchkomme?»
Jede andere hätte sich jetzt entschuldigt. Nicht ihre Schwester: «Ach was, so ein Quatsch», sagte sie wieder. «Das ist nicht Kämpfen.»
Nevada musste lachen. Sierra hatte recht. Ihr Leben war kein Kampf. Nicht mehr. Sie hatte sich ergeben. «Was meinst du denn?»
«Ich meine nicht den täglichen Kampf im Alltag. Ich meine den konkreten, den gezielten Kampf gegen einen Feind. Ich meine Strategie. Ich meine Krieg.»
«Krieg? Jetzt übertreibst du aber.»
«Das glaube ich nicht. Diese Frauen verfolgen einen Plan. Irgendetwas wollen sie, das nichts mit dir, nichts mit Ted und schon gar nichts mit deinen Mädchen zu tun hat. Ihr seid nur Mittel zum Zweck.»
«Woher willst du das denn wissen? Du kennst sie doch gar nicht.»
Sierra seufzte. «Du bist ein hoffnungsloser Fall, Schwester! Woher ich das wei� Weil ich die Menschen kenne. Jeder verfolgt ein Ziel.»
«So gut will ich die Menschen gar nicht kennen», murmelte Nevada und leckte geschmolzenes Eis von ihrem Finger.
«Das ist aber ein Fehler. Schau dich doch an. Du bist vollkommen besetzt von diesen Auseinandersetzungen, weil du sie nicht durchschaust. Du verstehst nicht, was wirklich passiert. Das strategische Denken liegt dir einfach nicht. Du siehst immer nur den nächsten Schritt, der vor dir liegt.»
«Und? Das ist doch nichts Schlechtes.» Das hatte Nevada schlieÃlich vom Yoga gelernt: In jedem Augenblick ganz da zu sein. Einen Fuà vor den anderen zu setzen. Nicht immer vorauszutänzeln und gleichzeitig über die Schulter zurückzuschauen. Darin lag doch das Wesen jeder höheren Weisheit. Bleib hier, jetzt. Und jetzt. Und jetzt.
«Nein, das ist nichts Schlechtes. Aber es ist ein Luxus. Und es klingt ganz so, als könntest du dir den nicht leisten. Nicht wenn du das Projekt retten willst.»
«Ich will nicht, aber ich muss», sagte Nevada trotzig. «Also gut. Sag mir, was ich tun soll.»
«Du musst herausfinden, worum es geht. Was die Damen wirklich wollen. Und wie sie es bekommen können, ohne dich zu benutzen.»
«Und wie finde ich so etwas heraus?»
«Erstens: Glaub kein Wort von dem, was sie dir erzählen. Stell dir vor, dass hinter jedem Satz ein anderer steht. Wie eine Geheimschrift. Du musst nur den Code knacken. Den Schlüssel finden.»
Nevada schüttelte den Kopf. «Das stelle ich mir extrem anstrengend vor.» War sie schon zu lange mit Dante zusammen? Oder hatte sie immer schon alles so wörtlich genommen? Von alleine kam sie nie auf den Gedanken, jemand könnte nicht meinen, was er sagt. Warum sollte man sich das Leben derart kompliziert machen? Es war doch schon schwierig genug.
«Erinnerst du dich noch, wie Ben uns das Schachspielen beibringen wollte?» Sierra nannte ihren Vater nicht Papa, sondern Ben. «Das ist dasselbe Prinzip. Denk immer zwei Schritte voraus. Aber du warst damals schon ein hoffnungsloser Fall.»
«Vielen Dank.»
«Keine Ursache. Das macht ja deinen speziellen Charme aus!» Sierra grinste.
Nevada warf ihren klebrigen Löffel nach ihr und verfehlte sie. Der Löffel flog in hohem Bogen über das Balkongeländer. Sie hörten ihn nicht aufschlagen. Aber sie hörten eine Stimme von unten: «Hey, Mann!» Die beiden Frauen duckten sich, als könnte man sie von unten sehen, dann schauten sie sich an und kicherten.
«So kann man jemanden totschlagen», sagte Sierra mit gespielter Strenge.
«Schade, dass die Rothenbühler nicht unten stand.»
«Rothenbühler? WeiÃt du ihren Vornamen?» Sierra öffnete ihre Tasche, die sie an einem Gürtel um die Hüfte trug, ähnlich wie eine Kellnerin ihre Geldtasche, früher, als man sie noch Serviertöchter nannte. Sie nahm ihr iPad heraus und schaltete es ein. Während sie wartete, zündete sie sich einen schlanken Joint an. Ohne Nevada zu fragen, ob es ihr etwas ausmache. Nevada wollte erst protestieren, dann streckte sie ihre Hand aus und nahm selber einen Zug. Marihuana half tatsächlich gegen beinahe all ihre Beschwerden. Doch sie gönnte es sich nur selten, und wenn, dann lieber in Form von Keksen. Nevada hatte sich vorgenommen, nicht mehr zu rauchen. Manchmal tat sie es doch. Sierra hatte recht: Sie hatte aufgehört zu
Weitere Kostenlose Bücher