Das wahre Leben
Schultern. Starke Frauen, Amazonen. Das alles war Erika nie gewesen. Sie hatte nur so ausgesehen.
Hier war sie mit ihrer Mutter in New York. Marylou war zu jeder Party mitgegangen, zu jedem Shooting. Das war ihre Welt. Die Künstler, die durchfeierten Nächte, die endlosen Diskussionen, Happenings, Aktionen. Erikas unerwarteter Erfolg war nur der Schlüssel zu dieser Welt. Wer durch die Tür trat, war Marylou. Erst später verstand Erika, dass Marylou nicht New York zu erobern versuchte, sondern dass sie ihren Mann verfolgte. Dass sie die Spuren von Georges verfolgte, dass sie versuchte zu verstehen.
Dass ihr das nicht gelingen sollte, war nicht Erikas Schuld. Und doch fühlte es sich so an. Immerhin hatte ihr Gesicht die Fabrik gerettet, wenn auch nicht die Ehe ihrer Eltern.
Erika blätterte durch ihr professionelles Portfolio, sah ihre Wangen hohler, ihre Haut blasser werden. Heroin chic. Erika wurde nur noch selten gebucht. Es folgten die Bilder, in denen sie für die Stofffabrik warb. Ihr Blick wurde immer leerer. Auf privaten Bildern wirkte sie verängstigt.
Ihre Hochzeit: Sie hatten so getan, als sei es nicht wichtig. Erika trug Turnschuhe. Unter dem durchsichtigen Kleid sah man ihren schwangeren Bauch. Max war betrunken gewesen. Auf den Bildern konnte man es nicht erkennen. Er blickte streitsüchtig in die Kamera. Hier stand Marylou zwischen ihnen, ihre Hand besänftigend auf Maxâ Ãrmel gelegt.
Und auf diesem Bild hier war ihr Gesicht so füllig wie heute, nur hatte es damals nicht an der eingespritzten Polsterung gelegen, sondern an der Schwangerschaft. Die Hormone hatten ihr auch zu einer Gelassenheit verholfen, die sie bis dahin nicht gekannt hatte. Die Schwangerschaft rechtfertigte Erikas Dasein mehr, als es ihre Schönheit je getan hatte. Endlich erfüllte sie einen Zweck. Sie bekam ein Kind. Das konnte ihr niemand absprechen. Unübersehbar stand ihr Bauch hervor.
Dann gab es eine Zeitlang nur noch Bilder, auf denen sie Suleika im Arm hatte. Sie hatte ihre Tochter kaum losgelassen. Hatte Suleika diese Fettmauer zwischen sie gelegt, weil sie sich anders nicht abgrenzen konnte?
«Wo bin ich?», hatte Suleika gefragt. Und sie, Erika, ihre Mutter, hatte geantwortet: «Ich bin hier.»
Erika nahm das jüngste Bild, das allerdings auch schon über ein Jahr alt war, in die Hand. Es zeigte sie beim jährlichen Sommerfest für die Mitarbeiter der Stofffabrik im Garten ihrer Mutter. Sie trug ein zu enges Kleid, war zu stark geschminkt. Sie hielt ein Champagnerglas in der Hand, es war nicht das erste an diesem Nachmittag. Erika sah verschwommen aus auf diesem Bild. Das entsprach ihrem Zustand. Aber es war der Autofokus der Kamera, der sich nicht auf sie gerichtet hatte, sondern auf die beiden Köpfe hinter ihr. Marylou und Max. Ihre Gesichter waren so nah beieinander, dass sie zu einem wurden. Einem einzigen besorgten und gleichzeitig genervten Blick auf die verschwommene Gestalt im Vordergrund. Erika, Niita, nichts.
Dann nahm sie das älteste Bild, das sie als schlaksige Vierzehnjährige mit einem Entwurf ihres Vaters zeigte. Sie hielt ein Stoffmuster vors Gesicht und blickte ernst über die flammenden Blüten in Orange und Türkis. Der Stoff fiel links und rechts an ihr hinab, darunter schauten ihre dünnen Beine in alten Jeans hervor, Grasflecken auf den Knien.
Erika legte die beiden Schnappschüsse nebeneinander. Wer war sie? Was war mit ihr passiert? Mit einer heftigen Bewegung schob sie die Bilder zusammen und schaufelte sie in die Schachtel zurück.
Sie wusste nicht, wie ihr Gesicht ausgesehen hatte, bevor sie geboren war. Sie wusste nicht, wer sie war.
Â
2.
«Ich will nach Hause», sagte Suleika, und Erika wagte nicht nachzufragen. Was meinst du damit? Wo ist dein Zuhause? Auf dem Zürichberg oder in Seebach? Sie strich über Suleikas Hand, die weich und fest und weià wie ein kleines Kissen auf dem dünnen Laken lag. Es war heià in dem Zimmer. Das Fenster lieà sich nicht öffnen. Auf Suleikas Stirn lag ein feuchter Film, doch ihre Hand war trocken. Von ihren Nägeln blätterte hellblauer Lack.
«Es tut mir leid.» Suleika wandte den Kopf ab. «Ich schäme mich so», sagte sie.
Und Erika schwieg. Sie sagte nichts. Sie hielt nur die Hand fest und streichelte sie, statt zu sagen: «Du darfst dich nicht schämen. Es ist nicht deine Schuld.» Statt zu sagen: «Es gibt eine
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