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Das wahre Leben

Titel: Das wahre Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Moser
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den Gesprächen in der Schule, die Eltern habe ich nie gesehen. Deniz war ein- oder zweimal bei uns, sie schien mir ein ganz normales Mädchen, sie haben sich im Zimmer eingeschlossen, zusammen Gossip Girl geschaut auf dem Laptop, so was eben.»
    Â«Wie hat sich das Mobbing auf Lana ausgewirkt?», fragte Nevada. «Was hat die Schulpsychologin bewogen, Lana in das Programm einzuteilen?» Soviel sie wusste, war die Teilnahme nicht freiwillig.
    Â«Lana hat sich immer mehr zurückgezogen. Ihre Noten sind immer schlechter geworden, sie hat die Schule geschwänzt – einfach, weil sie Angst hatte vor dem, was sie dort erwartete. Weil sie wusste, dass die Lehrerinnen sie nicht schützen konnten. Weißt du, wie viele Lehrerinnen sie seit Beginn des Schuljahres hatte? Vier! Und zwei Vertretungen. Und das im ersten Oberstufenjahr, dem wichtigsten. Jetzt entscheidet sich ihre Zukunft, verstehst du? Aber niemand behält den Überblick. Niemand hat ein Auge auf diese Kids. Und dann wundert man sich.»
    Das wäre ihre Aufgabe gewesen, verstand Nevada. Sie hatte versagt. Aber sie würde es wiedergutmachen.
    Â 
3.
    Â«Wie kann jemand, der mit Menschen arbeitet, so hasserfüllt sein?», fragte Nevada.
    Â«Wie kann jemand, der mit Menschen arbeitet, so naiv sein?», fragte Sierra zurück. Sie hatte Nevada zwei weitere Kisten voller Einrichtungsgegenstände aus der Gesundheitsoase gebracht, die nicht mehr in ihr Freudenhaus passten. Mehr Kissen und Decken und Kerzenständer und Karaffen. Mehr Teebeutel und Bücher über die Selbstheilungskräfte des Körpers. Mehr Duftkerzen.
    Â«Super», sagte Nevada. Wenig begeistert. Die Sachen passten nicht in ihre Wohnung, die von Dante und der Liebe bereits mehr als ausgefüllt wurde. Doch Sierra hatte auch eine große Auswahl an Eisfrüchten mitgebracht, die sie auf einem Bett aus Trockeneis transportiert hatte. Über das Trockeneis freute Nevada sich am meisten. Sie kippte es in eine Schüssel und übergoss es mit kaltem Wasser: Es wirkte wie eine Klimaanlage. Jetzt saßen sie auf dem Balkon, tranken Eiskaffee und probierten die süßen Früchte: Haselnuss, Banane, Zitrone, Himbeere. Bald verschmolzen die Reste auf der Platte zu einer einzigen buntgemusterten Sauce, die Nevada mit ihrem Finger auftupfte. Ihre Füße steckten in einem Plastikeimer mit Eiswasser.
    Der Balkon lag schon halb im Schatten, der Nachmittag ging zu Ende. Es würde bald kühler werden. Dante würde nach Hause kommen. Er traf sich in der Migräne mit seiner Illustratorin, danach hatte er einen Termin bei Doktor Fankhauser. «Reine Routine», hatte er gesagt. Nevada hatte sich nicht aufgedrängt. Bei der Hitze ermüdete sie noch schneller, die überfüllten S-Bahnen, die stickigen Unterführungen belasteten sie noch mehr als sonst. Immer wieder streckte Nevada ihre Hand nach ihrem Telefon aus, das unverdrossen vor sich hin blinkend und piepsend auf dem Balkontisch lag. Jede Stunde, die Dante nicht mit ihr verbrachte, füllte er mit Nachrichten. Gedanken, Beobachtungen, Fragen, Liebesbotschaften und Neckereien. Nevada lernte eine neue Dantesprache, ohne die ständigen Pausen, die seine Sätze unterbrachen.
    Nevada schaute voller Zärtlichkeit auf das Display: «Kalte Pizza???», stand da.
    Dann richtete sie sich wieder auf. «Was soll ich denn tun?», fragte sie. «Diese Weiber machen mich einfach fertig! Ich kann mich nicht gegen sie wehren. In ihrer Gegenwart benehme ich mich immer wie ein pubertierendes Gör!»
    Â«Warum musst du dich denn wehren? Ist es nicht Teds Projekt?»
    Â«Eben darum. Es ist ihm so wichtig. Er hat mir vertraut, er hat mir so viel zugetraut. Und ich habe auf der ganzen Linie versagt. Wenn der Versuch abgebrochen wird, ist es meine Schuld!»
    Â«Ach, Quatsch, das hat doch mit dir nichts zu tun.» Sierra trug auch in der größten Hitze schwarz. Ihre Bluse war nicht zerknittert, ihre Hose nicht fleckig. Ihre kurzen blondgefärbten Haare lagen glatt am Kopf an. Ihre Stirn wurde nicht feucht. Sierra sah aus, als könnten ihr die Elemente nichts anhaben. Sie beugte sich vor und fuhr Nevada über das kurzgeschorene Haar. Es war eine mütterliche Geste, die Nevada fast zu Tränen rührte. Diese Fürsorge. Auch dafür hatte sie erst krank werden müssen.
    Â«Du liebes Kind», sagte Sierra jetzt noch, als sei sie tatsächlich ihre Mutter.

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