Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das wahre Leben

Titel: Das wahre Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Moser
Vom Netzwerk:
etwas gekünstelt.
    Â«Von mir aus musst du nicht gehen.» Dante ging um den Rollstuhl herum, ohne Nevada loszulassen. Er trank einen Schluck Eiskaffee aus ihrem Glas, nahm einen Löffel von dem zerlaufenen Eis. Ohne Nevada loszulassen. Nevada schaute ihn von der Seite an, er sah müde aus. Sie würde Sierra nicht aufhalten.
    Â«Du hörst von mir, Schwesterchen. Mach dir mal keine Sorgen.» Im Gehen strich sie Nevada über den Kopf. «Ich find schon allein hinaus. Du musst nicht aufstehen.»
    Â«Haha», sagte Nevada.
    Das Trockeneis war verraucht. Die Sonne erreichte den Balkon nicht mehr. Dante fuhr mit dem Löffel über die Platte, auf der das Eis geschmolzen war. Er zeichnete Linien und Spiralen. Sein Mund bewegte sich, als wolle er etwas sagen. Als sei er voller Worte, die sich aneinanderdrängten, die sich weigerten, über seine Lippen zu kommen.
    Â«Hey», sagte Nevada. «Du.»
    Als er sie anschaute, wurde ihr kalt.
    Â«Ich muss mit dir reden», sagte Dante.

 
    Â 
    Â 
    Om Shraddhayai Namah
    In der vollkommenen Dunkelheit streckte sie die Hand ins Leere.
    Sie sah nichts, und sie wusste doch, dass da etwas war.
    Das im Dunkeln auf sie wartete. Das bereit war,
    sie aufzufangen, festzuhalten. Eine andere Hand,
    die sich ihrer Hand entgegenstreckte. Ich begrüße das absolute Vertrauen, das mich erfüllt. Das einfach da ist.

Erika
1.
    Wie sah dein Gesicht aus, bevor du geboren wurdest? Wie sah dein Gesicht aus, bevor deine Mutter geboren wurde?
    Diese Frage hatte die Sensei einmal gestellt. Es war eine Zenfrage. Und als solche nicht zu beantworten. Erika versuchte es trotzdem. Dabei erinnerte sie sich nicht einmal an das Gesicht, das sie vor zehn Jahren gehabt hatte. Sie schaute sich die alten Bilder aus ihrer Modelzeit an und erkannte sich selber nicht. Nicht nur, weil ihre Haare heller und ihre Lippen voller waren als damals. Ihre ganze Knochenstruktur war nicht mehr dieselbe. Ihre Augen lagen enger beieinander und waren auf seltsame Art kleiner geworden. Dabei hätte das wiederholte Straffen der Haut sie doch stärker hervorheben sollen. Ihre Nase war schmaler, ihr Kinn ausgeprägter, ihre Wangenknochen verschwanden in den prall aufgespritzten Backen. Ihre Augenbrauen waren nicht mehr waagrecht, sondern v-förmig, ihre Lippen hatten ihren Venusbogen verloren, ihre schmale Form.
    Sie hatte ihr Gesicht zerstört. Ihr äußeres Gesicht. Doch war dieses Gesicht wirklich ihr Gesicht? War ihr äußeres Selbst ihr wahres Selbst? Erika hatte sich über eine Schönheit definieren lassen, die ihr nicht einmal bewusst gewesen war. Vielleicht, weil sie so anders aussah als ihre Mutter, die klein und dunkel und üppig war, «wie eine Zigeunerin», sagte sie immer stolz. Erikas ebenmäßige blonde Blässe wirkte langweilig neben Marylous exotischem und exaltiertem Auftreten. Und doch musste Marylou Erikas Potential erkannt haben, sonst hätte sie diesen Model-Scout nicht zum Essen eingeladen. Dieser entschied sich noch vor der Hauptspeise. Er sagte Erika eine große Zukunft voraus. Sie entspreche genau dem Zeitgeist. Wie seltsam, dachte Erika damals. Niemand konnte sich fremder fühlen in ihrer Zeit als sie. Doch dann sah sie über den Tisch und in die Augen ihrer Mutter. Marylou lächelte. Erika nickte. Nachdem sie den Vertrag unterschrieben hatte, öffnete Marylou eine Flasche Champagner. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte Erika das Gefühl dazuzugehören. Etwas beizutragen. Zur Familie, zur Stofffabrik. Endlich hatte sie etwas zu bieten. Und wenn es nur ihr Gesicht war, für das sie nichts konnte.
    Unter den wenigen Dingen, die Erika vom Zürichberg mitgebracht hatte, befanden sich auch zwei Schachteln voller Negative und Abzüge. Immer wieder breitete sie die Bilder auf dem Fußboden aus, als könnte sie sich in ihnen wiederfinden. Sie brachte sie in eine chronologische Ordnung. Da war sie als junges Mädchen, groß, dünn und ungelenk. Alle erfolgreichen Fotomodelle waren durch diese Phase gegangen, nicht Backfisch, sondern Giraffenfohlen. Die Glieder zu lang, der Mund zu groß, die Nase zu klein. Was in der Realität irritierend wirkte, setzte sich im richtigen Licht zu überirdischer Schönheit zusammen. Auf ihren ersten professionellen Bildern erkannte sie in ihrem trotzigen Blick pure Angst. Die Augenbrauen über der Nase beinahe zusammengewachsen, das galt damals als schön. Breite

Weitere Kostenlose Bücher