Das wahre Leben
schüttelte den Kopf.
«WeiÃt du, nur weil jemand in einer subventionierten Wohnung wohnt, heiÃt das nicht, dass er asozial ist. Ich zum Beispiel, ich bin Künstlerin, ich komme vom Tanztheater, ich hatte früher meine eigene Truppe, Ferrara Unplugged , ich weià nicht, ob du von uns gehört hast ⦠vermutlich bist du zu jung ⦠WeiÃt du, ich hab nie über Altersvorsorge oder so was nachgedacht. Ich habe vier Kinder von vier Männern, war aber nie verheiratet. Keiner zahlt was. Das Tanzen hab ich aufgegeben, der Körper machte irgendwann nicht mehr mit.»
«Ich komm ursprünglich auch vom Tanz», unterbrach Nevada ihren Redefluss.
Lena musterte sie prüfend, nickte. «Man sieht es noch. In der Art, wie du dein Glas hältst.» Sie machte es nach, hielt den Arm anmutig gerundet vor die Brust und öffnete ihn dann. Dabei kippte sie ihr leeres Glas um, da riss sie theatralisch die Augen auf und schlug sich die andere Hand vor den Mund.
Nevada musste lachen. «Du bist gut», sagte sie.
Lena seufzte. «Irgendwann bist du fünfzig und weiÃt nicht, wie du den Lebensunterhalt verdienen sollst. Und dann endest du eben an einem Ort wie diesem. Für die Buben ist es nicht so schwierig, die sind sportlich, die setzen sich durch, das Skaten verschafft ihnen Achtung bei ihren Freunden. Aber Lana, du hast sie ja gesehen, sie ist schüchtern, verträumt, noch nicht so entwickelt wie andere in ihrem Alter. Sie wurde vom ersten Tag an gemobbt.»
«Das tut mir leid zu hören. Das wusste ich nicht.» Zu ihrem Schrecken merkte Nevada, dass sie kein genaues Bild mehr von dem Mädchen hatte. Unauffällig war es in der ersten Reihe gestanden, hatte dort vielleicht unbewusst ihren Schutz gesucht. Nevada erinnerte sich, dass sie nicht richtig auf der Matte stand, eher ein paar Zentimeter darüber zu schweben schien. Selbst in der Grundstellung, Tadasana, dem Baum, schwankte sie hin und her. Das wusste Nevada noch. Aber auf der StraÃe hätte sie das Mädchen nicht mehr erkannt. Sie hatte sie mehrfach im Stich gelassen.
«Das wundert mich nicht. Wahrscheinlich hat es dir niemand gesagt. Meinst du, das interessiert hier irgendjemanden? WeiÃt du, wie oft ich in der Schule war? Die kümmern sich ja nur um die Ausländerkinder â und denk jetzt ja nicht, ich sei Rassistin. Ich bekomme einfach selbst zu spüren, was es heiÃt, benachteiligt zu sein. Als Frau, als Mutter, als hellhäutige Schweizerin. Schlimmer, ich spüre es am Leib meiner Tochter, die keine Unterstützung bekommt, weil sie Schweizerin ist, und die Mädchen, die sie plagen, sind Albanerinnen. Sie zur Rechenschaft ziehen â das sei rassistisch! Und so musste Lana immer einstecken und stillhalten, und dann wurde sie noch sozusagen gezwungen, mit ihren Peinigerinnen zusammen den Sommer zu verbringen.»
«Wer hat sie denn geplagt?», fragte Nevada, obwohl sie die Antwort ahnte.
«Elma und diese Deniz. Hat man dir kein Dossier gegeben?»
«Nein», sagte Nevada. Das war gelogen. Sie hatte sehr wohl ein Dossier bekommen â sie hatte es nur nicht genau genug gelesen. Ihr Vorsatz, die Mädchen so kennenzulernen, wie sie bei ihr in der Stunde standen, über ihre Körper, ihre Bewegungen, war gut gewesen. Sie hätte ihn nur ausführen müssen. «Wie lief das ab?»
«Sie erzählt mir ja nichts.» Lena zündete eine zweite Zigarette an der ersten an. «Ich weià nicht, was da wirklich passiert ist. Eine Zeitlang hatte ich das Gefühl, Lana und Deniz könnten Freundinnen werden. Aber dann kam Elma dazwischen. Elma ist ein echtes Problem. Frau Rothenbühler versucht seit einer Weile, sie in eine Sonderklasse zu versetzen, aber sie hat einfach zu gute Noten. Ich weià nicht, wie sie das schafft. Sie lebt allein mit ihrer GroÃmutter, die kein Wort Deutsch spricht.»
Also doch. Das hatte Nevada gewusst. Wer hatte ihr das erzählt? Elma und Deniz und der Bruder von Deniz waren in der ersten Ferienwoche aneinandergeraten. Elma war in der Notaufnahme gelandet, und Denizâ Schwangerschaft war herausgekommen. Nevada fragte sich jetzt, ob Lanas Ausscheiden aus dem Programm mehr damit zu tun hatte als mit ihrem Rücken.
«Kennst du Deniz, ihre Familienverhältnisse?»
«Nicht genau. Sie ist die Jüngste, das weià ich. Ihr ältester Bruder, Farik, ist das Familienoberhaupt. Er kommt auch immer zu
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