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Das wahre Leben

Titel: Das wahre Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Moser
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Erklärung für das, was passiert ist.» Statt zu sagen: «Ich bin es, die sich schämt.»
    Plötzlich erinnerte sie sich an etwas, das Fräulein Meister, ihre Kindergärtnerin, immer gesagt hatte, wenn die Vase zerbrochen am Boden lag und keiner es gewesen sein wollte. Wenn die Buben sich gegenseitig nach vorne schubsten und dabei heftig protestierten, wenn die Mädchen sich hintereinander versteckten und unter den Stirnfransen hervor von einer zur anderen schielten. «Ach so, ich verstehe», sagte Fräulein Meister dann immer. «Du warst es nicht, er aber auch!» Erika hatte viel über diesen Satz nachgedacht und ihn nie ganz verstanden. Erst jetzt fühlte sie, was gemeint war. Wenn es Suleikas Schuld war, konnte es nicht ihre sein. Dabei war genau das ihre Schuld. Jetzt verstand sie auch die Enttäuschung, die jeweils in Fräulein Meisters Stimme gelegen hatte. Sie hätte mehr von ihnen erwartet. Erika auch.
    Suleika begann zu weinen. Erika hielt ihre Hand. Sie wollte mehr tun, aber sie konnte nicht. «Alle nehmen es», schluchzte Suleika. «Ich wusste nicht, dass es gefährlich ist. Es ist ja nicht wie eine Droge, man sieht einem ja nichts an. Man kann es ganz billig auf dem Pausenplatz kaufen, es gibt immer einen, der mehr verschrieben bekommen hat, als er wirklich braucht. Die einen nehmen es zum Lernen, die anderen zum Wachbleiben, und manche auch zum Abnehmen.»
    Â«Aber du willst doch gar nicht abnehmen.» Erika konnte nicht glauben, dass sie das ausgesprochen hatte. Es war, als sei sie von Kopf bis Fuß eingegipst, in den erstarrten Verbänden ihrer Gewohnheiten und Muster gefangen. Unbeholfen taumelte sie durch den Porzellanladen ihrer Beziehung zu Suleika und zerschlug alles, was noch nicht zerschlagen war. Und die ganze Zeit starrten ihre Augen verzweifelt aus einer kleinen Öffnung im Gips heraus. Sie sahen alles und konnten nichts verhindern.
    Â«Ich dachte halt, ich könne auch neu anfangen. So wie du. Ich dachte, ich komme hierher und lerne neue Leute kennen. Und dann muss ich gleich in die Umkleidekabine. Gleich am ersten Tag. Zusammen mit anderen, die ich nicht kenne. Und das Erste, was ich sehe, sind die anderen dicken Mädchen. Nicht so dick wie ich, aber dicker als die an meiner Schule. Und weißt du, die verstecken sich nicht mal. Die tragen enge Sachen und strecken die Brüste heraus und wackeln mit dem Hintern und tun so, als sei das alles ganz normal. In meiner Schule jammern alle, sie seien zu dick, auch die ganz dünnen, und dann schauen sie so zu mir rüber, als sei ich schuld an allem. Nur weil ich die Regeln nicht beachte. Weil ich das Gesetz gebrochen habe: dünner ist besser. Hier ist das nicht so. Und ich steh in der Umkleidekabine und krieg die Arme nicht über den Kopf und muss in meiner Tunika turnen, die schon ganz verschwitzt riecht. Und da dachte ich plötzlich, ein bisschen weniger schwer wär auch gut. Nur so, dass ich mich richtig bewegen kann. Und coolere Sachen kaufen. Ich will nicht dünn sein. Nicht so wie du. Nur ein bisschen weniger dick. So wie Elma oder Sabina.» Suleika schniefte. «Da hab ich halt die Pillen genommen, und damit es schneller geht, hab ich ein bisschen mehr davon genommen. Es tut mir so leid!»
    Und alles, was Erika hörte, war: Suleika hat den Fehler gemacht. Nicht ich. Mit mir hat das nichts zu tun. Mir kann man nichts vorwerfen. Sie schämte sich dieser Gedanken, schämte sich so sehr, dass sie kaum atmen konnte, aber sie sagte nichts. Immer noch sagte sie nichts.
    Als hätte er ihre Gedanken gehört, trat jetzt Lukas ins Zimmer. Er trug einen weißen Mantel über seinem T-Shirt und sah sehr professionell aus. Wieder spürte Erika diese knochentiefe Erleichterung, die sie auch im Traum gespürt hatte. Du, dachte sie, bist es wirklich du? All die Jahre, und er war immer da gewesen. Doch Lukas sah sie nicht an. Er ging um das Bett herum und setzte sich auf die Kante. Suleika sah zu ihm auf. Sie entzog Erika ihre Hand und wischte sich über die Augen.
    Lukas tat, als hätte er die Tränen nicht gesehen. «Na, du? Ich höre, du willst hier raus?»
    Suleika nickte. Lukas fühlte ihren Puls, strich über ihre Stirn. «Ich hab hier zwar nichts zu sagen, aber ich glaube nicht, dass es einen Grund gibt, dich noch länger hierzubehalten. Wir haben gleich eine Besprechung mit Doktor Fankhauser. Wenn du willst, kann ich als dein

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