Das wahre Leben
dass ein so junger Mann in solch ausgeflippter Kleidung so konservative Vorstellungen hatte. Gleichzeitig rührte es sie. Wie klar er alles sah, wie genau er wusste, was richtig war und was falsch. Ihr eigenes Leben kam ihr im Vergleich so verschwommen vor, so richtungslos. Erika empfand tiefe Erleichterung. Zum ersten Mal hatte sie es ausgesprochen: Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr, auch wenn es keinen vernünftigen Grund gibt dafür. Und auch wenn ihr Gegenüber offensichtlich nicht verstand, was sie damit meinte, ihren Entscheid sogar kritisierte, machte das nichts. Sie würde ihn trotzdem durchziehen. Es war ihr Leben. Einen Moment lang wurde ihr beinahe schwindlig von der GröÃe dieses Gedankens. Konnte es so einfach sein?
«Hast du Kinder?», fragte Mario.
«Eine Tochter.»
«Und was meint sie dazu?»
Erika schwieg. Nein, es konnte nicht so einfach sein. Natürlich nicht. Mario bedeutete nichts, er gehörte nicht zu ihrem Leben. Er spielte keine Rolle in dem Gerüst, an dem sie sich seit fast dreiÃig Jahren festhielt.
Andererseits â Max verstand sie ohnehin nicht, Suleika wollte möglichst wenig mit ihr zu tun haben, und ihre Freundinnen waren mit sich selbst beschäftigt. Kümmerte es Mona etwa, was Erika über sie dachte? Oder gar Gerda? Warum sollte sie sich als Einzige nach den anderen richten? Wenn sie es ihnen doch nicht recht machen konnte?
«Sorry», sagte Mario. «Geht mich ja nichts an. Nur, weiÃt du, ich bin selber ein Scheidungskind, und ich hab meiner Mutter nie ganz verziehen, dass sie gegangen ist. Ich hab es auch nie verstanden. Mein Vater war ein cooler Typ, er war auch nach der Scheidung viel bei uns, wir sind sogar zusammen in die Ferien gefahren â und irgendwie machte das alles noch schlimmer. Warum dann nicht einfach zusammenbleiben? Warum ständig neue Freunde und Freundinnen, mehr Kinder links und rechts, noch mehr Trennungen, noch mehr Dramen? Warum muss man alles so kompliziert machen, wenn man sich doch eigentlich gerne mag und gut miteinander auskommt? Warum?» Er schaute Erika an, als erwarte er tatsächlich eine Antwort von ihr.
«Ich weià es nicht», sagte sie. «Aber ich glaube nicht, dass mein Mann mich mag.»
Â
2.
«Jetzt willst du ausziehen?» Max lehnte sich zurück.
Auf dem Tisch standen die Ãberreste des Marathonläufer-Frühstücks, das Erika für ihn zubereitet hatte, lauter Speisen, die nicht besonders gut schmeckten, aber die Leistung unterstützten. Sorgfältig hatte sie die Eier getrennt und nur das WeiÃe in die Pfanne gerührt, zusammen mit Spinat und Seidentofu. Suleika hatte demonstrativ ein paar Muffins aus dem Tiefkühler geholt und aufgetaut. Gedankenlos griff Erika nach einem und biss hinein. Beinahe hätte sie laut aufgestöhnt, als sich die klebrige SüÃe in ihrem Mund entfaltete. Von jetzt an würde sie nur noch das essen, was sie wollte, beschloss sie. Und wenn sie dabei so dick würde wie Suleika. Ãber den Tisch blickte sie zu ihrer Tochter und hörte dabei nicht, was Max gesagt hatte.
Es wurde still. Sie schaute auf. «Ja, jetzt, warum nicht jetzt?»
«Ständig beklagst du dich, dass ich nie da bin, und jetzt, wo ich endlich mal ein paar Wochen am Stück in Zürich bleiben könnte, ziehst du aus?»
«Ich finde es gut», sagte Suleika mit vollem Mund. «Endlich läuft was. Das war doch schon lange kein Zustand mehr hier.»
«Kein Zustand?»
«Ihr lebt wie Fremde nebeneinander her. In jeder WG haben die Leute mehr miteinander zu tun. Und sind erst noch netter miteinander.»
Erika schwieg betroffen. Was hatte sie erwartet? Dass Max tobte, Suleika weinte? Dass sie sie anflehten: «Geh nicht! Wir lieben dich!» Wozu hatte sie sich solche Mühe gegeben?, fragte sie sich. Für wen hatte sie sich so angestrengt?
«Suleika hat recht», sagte Max. «Wir haben uns lange genug etwas vorgemacht. WeiÃt du â¦Â» Er lachte. «Ich wollte selber schon vorschlagen, dass ich ganz ins Glarnerland ziehe, ich verbringe ohnehin schon die halbe Woche dort, wenn ich nicht auf Reisen bin. Warum machen wir es nicht so? Du und Sully, ihr könnt hier im Haus bleiben, wie ihr es gewohnt seid.»
«Aber ich will eben nicht so weitermachen, wie ich es gewohnt bin.» Das war Erika herausgerutscht, ohne dass sie darüber nachgedacht hätte. Doch der Satz fühlte sich
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