Das wahre Leben
Bad, geduscht, in frischen Jeans.
«Ich weiÃ, was das hier ist», sagte er. Er legte einen Arm um seine Tochter, den anderen um seine Frau und zog beide Köpfe zu sich heran.
Erika fand es schwer zu atmen. «Was?», fragte sie und machte sich los.
«Was du hier tust, mit der Wohnung, mit Seebach â du nimmst dir eine Auszeit. Es ist der richtige Moment dafür. Suleika wird langsam erwachsen, du musst dich neu orientieren, dir neue Ziele setzen. Das respektiere ich total. Ich bewundere dich sogar. Andere Frauen fahren dafür in ein teures Wellness-Hotel oder lassen sich von halbverhungerten Sherpas auf den Himalaya schleppen. Ehrlich gesagt, mir ist das sympathischer als die Vorstellung, dass du dich in einem Ayurveda-Tempel massieren lässt, während ich in Indien mit Frauen zusammenarbeite, die um ihr Ãberleben kämpfen.»
Das sagst du mir jetzt?, dachte Erika. Irgendwann einmal hatte sie sich auf diese Reise gefreut. «Ich ziehe aus», sagte sie trotzig wie ein Kind. «Ausziehen ist nicht dasselbe wie Auszeit.»
«Ich weiû, sagte er. «Und du sollst dir diese Zeit auch nehmen. Ich hatte eh vor, die nächsten zwei Wochen in Zürich zu bleiben, und dann sind ja schon Ferien, wer weiÃ, Suleika, vielleicht hast du Lust, mit mir nach Indien zu reisen? Wir können Mamas Ticket auf dich überschreiben, dann fliegst du sogar Business Class.»
«Indien? Cool, Dad!» Suleika strahlte. Erika wandte sich ab. Eine Auszeit. Max hatte recht. Auszeit klang besser als Ausziehen. Nachvollziehbarer, vernünftiger. Eine Auszeit konnte auch Suleika akzeptieren. Eine Auszeit hatte einen Anfang und ein Ende.
Max klatschte in die Hände. «Kommt, wir fahren alle zusammen nach Seebach», sagte er. «Wir füllen den Lieferwagen mit ein paar Sachen, mit ein paar Möbeln. Such dir aus, was du willst, nimm, was du brauchst.»
«Danke.» Wie groÃzügig von dir, dachte Erika. Waren es nicht ihre Möbel? Sie sollte dankbar sein, dass er es so gut aufnahm. Dass er sie unterstützte. Sogar zwischen ihr und Suleika vermittelte. Nur dass er so verflucht zufrieden wirkte, richtig aufgekratzt.
Schlechtgelaunt stapfte sie durch ihr Haus, das kein Haus sein sollte. Sie wusste nicht, was sie mitnehmen wollte. Sie hatte ihre neue Wohnung nicht vermessen. Keine Pläne angefordert. Nicht viel überlegt.
Jedes einzelne Möbelstück hier hatte eine Geschichte und einen Wert. Jedes hatte sie erstanden, als hinge ihr Leben davon ab. Jedes hatte sie einen Moment lang glücklich gemacht. Wie ausgestopfte Tierköpfe an der Wand eines GroÃwildjägers erinnerten sie an das Hochgefühl der Jagd.
Siehst du nicht, was ich geleistet habe?, wollte sie fragen. All die Sachen, die sie angehäuft hatte! Niemand würde glauben, wie viel Energie sie da hineingesteckt hatte, wie viel Zeit. Wie viel ernsthafte Anstrengung. Und wofür sollte sie sich jetzt anstrengen? Sie musste doch einmal andere Träume gehabt haben. Wenn sie sich nur an sie erinnern könnte! Als kleines Mädchen hatte sie mit ihrem Vater zusammenarbeiten wollen. Sie wollte Stoffe entwerfen, wie sie die Welt noch nie gesehen hatte. Sie wollte ihn nach Paris begleiten und nach New York, wollte die Kleider sehen, die aus ihren Stoffen geschneidert würden. Kleider, die lebten, die sich mit den Models bewegten, als wären sie Teil ihrer Körper. Und das nur, weil ihre Stoffe lebten, die Farben, die Muster, die Beschaffenheit miteinander spielten, ein Eigenleben führten.
Erikas Zeichnungen hatten nie einen Rand gehabt. Ihre Lehrerin, Fräulein Kunz, war darüber fast verzweifelt. Mit einem Lineal hatte sie einen Zentimeter vom Rand des Zeichenblatts nach innen gemessen und mit dickem schwarzen Filzstift einen Rahmen gemalt. Umsonst. Erika zeichnete über den Rand hinaus und auf dem Pult weiter. Ihre Zeichnungen hatten keinen Anfang und kein Ende, sie zeichnete nicht das Dorf oder das Meer oder den Himmel, wie sie sollte, sie zeichnete Muster, in denen sich Hausdächer wiederholten, Fische ineinander verschmolzen, Sterne wie gepunktete Linien durch den Nachthimmel zogen wie Anleitungen für Tanzschritte.
Ihr Vater war in die Schule gekommen, ein damals schon hagerer Mann mit einem vortretenden Adamsapfel, den ein leuchtend roter Schal verdeckte. Ein seltsamer Mann, über den niemand laut lachte, er war der Direktor, das halbe Städtchen arbeitete für
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