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Das wahre Leben

Titel: Das wahre Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Moser
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ihn. Als er das Schulzimmer betrat, wurde es still.
    Er hielt einen Stapel von Erikas Zeichnungen in der Hand, die sie mit nach Hause gebracht hatte. «Aufgabe nicht erfüllt», stand in Fräulein Kunz’ zierlicher Schrift auf der Rückseite. «Nicht gemittet!»
    Â«Nicht gemittet!», rief Georges Keiner. «Nicht gemittet?» Seine Stimme füllte das Klassenzimmer und drang bis auf den Flur hinaus, wo der Hausmeister beim Aufwischen innehielt. Dass so eine große Stimme aus so einem dünnen Mann kommen konnte!
    Â«Bitte sagen Sie mir, gute Frau, Hüterin der Künste, bitte bestätigen Sie mir, dass dieser Kommentar ironisch gemeint war!» In den hintersten Reihen kicherten ein paar Buben. Georges drehte sich zu ihnen um. Er schwang seinen Schal um sich wie ein Cape.
    Â«Lacht nur», sagte er. «Ihr werdet schon sehen!»
    Â 
    Sie luden zwei Stühle und einen schmalen Tisch auf den Lieferwagen, eine Chaiselongue und die Futonmatratze vom Gästebett, die sich zusammenrollen ließ. Erika band sie mit Schnüren fest. Das Gestell dazu passte nicht mehr auf die Ladefläche. Sie würde auf dem Boden schlafen, unter dem leuchtenden Sternenhimmel. Der große Koffer, eine Kiste voller Bücher, für die Regale im Schlafzimmer. Ein paar Pfannen und Töpfe, Essgeschirr, es wurde immer mehr.
    Im letzten Moment rannte Erika zurück, um ihre Malsachen zu holen. Sie hatte sie seit Jahren nicht angerührt. Und jetzt konnte sie sie nicht mehr finden.
    Â 
3.
    Â«Voll das Ghetto», sagte Suleika.
    Max sagte nichts. Erika wünschte sich, er wäre nicht hier. Sie wären beide nicht hier. Wie sollte sie ein neues Leben beginnen, wenn das alte nicht zu Ende ging?
    Max hatte den Lieferwagen nicht am Straßenrand parkiert, sondern in die Siedlung hineingelenkt, über die Kieswege bis direkt vor die Haustür. Erika hatte nicht gewagt, aus dem Fenster zu schauen. Was sollten ihre Nachbarn denken?
    Musste sie ihr neues Leben mit dieser alten Angst beginnen?
    Â«Dad, das kannst du nicht machen!», rief Suleika. «Mann, ist das peinlich.»
    Erika war froh, dass sie nichts gesagt hatte. Ihr hätte Max weniger nachsichtig geantwortet.
    Â«Meinst du, die Nachbarn hätten ihre Möbel alle von der Straße hergeschleppt? Wie stellst du dir das vor?» Max war nichts peinlich. Er schaute sich interessiert um, nickte ein paar herumlungernden Jugendlichen zu, die in einem Hauseingang standen und rauchten. Er schien sich wohl zu fühlen hier, aber Max fühlte sich überall wohl. Erika wäre gerne eingezogen, ohne aufzufallen, aber Max hatte recht: Wie sollte das gehen, wie stellte sie sich das vor?
    Erika schloss die Wohnung auf und öffnete von innen die Glastür. Max hatte bereits begonnen, ihre Sachen auszuladen. Kleinere Sachen, den Koffer, eine Kiste mit Kochgeschirr, eine Deckenlampe. Suleika versteckte sich im Lieferwagen.
    Â«Brauchst du Hilfe, Mann?» Zwei der Jungs kamen angeschlendert, ihre Zigaretten im Gehen wegschnippend. Sie trugen ihre Käppis verkehrt herum auf dem Kopf, ihre Hosen saßen tief, sie rochen nach Gras. Der Größere von beiden schaute interessiert durch das offene Fenster in die Fahrerkabine, wo Suleika zusammengekauert saß und mit ihrem Handy spielte. Sie tat, als sei sie nicht da. Doch als der Junge ihr zunickte, nickte sie zurück.
    Und dann stieg sie aus. Erika wollte nicht, dass sie ausstieg. In ihrem neuen Leben wollte sie sich nicht mit Suleikas Gewicht belasten. Aber vielleicht, dachte sie, vielleicht spielte es hier gar keine Rolle. In Holland gab es eine Siedlung, in der nur demente Menschen lebten. Es war eigentlich keine Siedlung, sondern ein Pflegeheim. Doch die Bewohner wussten das nicht, sie wussten nicht, dass sie rund um die Uhr betreut wurden. Dass die Realität, in der sie lebten, eine Kulisse war.
    Es gab einen Laden und einen Friseursalon, ein Postbüro und ein Café. Genau wie hier. Doch überall arbeiteten Pfleger und Sozialarbeiter. Wer weiß?, dachte Erika, vielleicht ist das hier auch so ein Versuch. Sie kicherte. Ein Pflegeheim für frustrierte Hausfrauen, die zu sich selber finden wollten. Ein Pflegeheim für Leute wie sie.
    Und so passte es auch, dass ihre Familie sie begleitete, ihre Tasche hineintrug, sich umschaute und alles lobte: «Schau doch, wie nett es hier ist. Hier wirst du es gut haben!»
    Eine Auszeit, dachte Erika. Es ist eine Auszeit, es

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