Das wahre Leben
ist kein Ausziehen. Kein neues Leben.
Mühsam hievte Suleika ihr Gewicht aus dem Lieferwagen und lieà sich schwer auf den Kiesweg plumpsen. Herausfordernd starrte sie die Jungen an. Diese nickten nur und hoben dann schnaufend und grunzend die Chaiselongue hoch. Die Jungen produzierten sich, spannten ihre Muskeln an und fluchten laut. Kaum in der Wohnung, lieÃen sie das Möbelstück fallen. Erika fürchtete, das Parkett habe schon einen Kratzer. Die Wohnungsübergabe hatte sie erstaunt, sie hatte so etwas noch nie erlebt. Eine Frau von der Verwaltung hatte anhand eines mehrseitigen Protokolls die einzelnen Punkte abgehakt. Sie hatte den Duschschlauch auseinandergezogen und die Zwischenräume kontrolliert, den Filterdeckel der Abzugshaube über dem Herd aufgeklappt. Sogar das Innere des Briefkastens hatte sie mit dem Finger auf Staub geprüft.
Suleika trug den zusammengerollten Futon alleine herein, auf der Schulter. «Wo ist das Schlafzimmer?», fragte sie. Als sie sich umdrehte, stieà die Matratze gegen die offene Glastür, die klirrend zukrachte.
«Wo ist das Schlafzimmer?» Das war für die Jungen zu viel. Sie wieherten, stieÃen sich gegenseitig an, wieherten lauter. Ihre Augen waren dunkel. Erika bekam Angst. Sie kannte sich mit jungen Menschen nicht aus. Suleika hatte keine Freunde.
Max trat zwischen sie. «Danke, Jungs», sagte er und drückte jedem zehn Franken in die Hand. Dann klopfte er ihnen auf die Schultern und drehte sie, ohne dass sie es merkten, Richtung Tür. «Bis dann!»
«Man sieht sich!»
Es war alles falsch, dachte Erika. Alles falsch. Das falsche Leben war nicht in dem falschen Haus geblieben. Sie hatte es mit umgezogen. Und doch war sie froh. Dass Max die Jungen wegschickte, dass er ihr half, die Deckenlampe anzuschlieÃen. In einer halben Stunde waren die Kisten ausgepackt. Erika wusste nicht, ob sie das allein geschafft hätte.
«Sollen wir noch was essen gehen?»
Sie wünschte sich, sie könnte einfach nein sagen. Doch wie konnte sie? Sie war immer noch verheiratet. Sie war immer Mutter. Also stiegen sie wieder in den Lieferwagen. Auf der Ladefläche hatte sich Abfall angehäuft. Ein paar Zigarettenstummel, Eisbecher. Langsam rollten sie über den Kiesweg zur StraÃe. Viele Menschen kamen ihnen entgegen, sie kamen vom Einkaufen, von der Arbeit, aus der Kinderkrippe. Sie gingen in ihre Wohnungen, die genau gleich aussahen wie die von Erika. Mit mehr oder weniger Zimmern. Sie wichen dem Lieferwagen aus, der sich durch sie hindurchpflügte.
Nicht weit vom Bahnhof, auf der anderen Seite der Geleise, fanden sie eine Pizzeria. Suleika bestellte Spaghetti alla Carbonara und eine Pizza. Erika eine Flasche WeiÃwein. Suleika spielte mit ihrem Handy. Immer wieder lachte sie leise auf, bevor sie etwas eintippte, schnalzte mit der Zunge. Es war, als sitze noch jemand mit am Tisch. Als Kind hatte Suleika eine unsichtbare Freundin gehabt. Daisy hatte einen festen Platz am Tisch gehabt, Erika hatte für sie gedeckt. Und Suleika hatte ihr die Mahlzeiten zugeschoben, die sie selber nicht hinunterbrachte. Daisy hatte immer alles aufgegessen. Vielleicht war es Daisy, die so dick geworden war. Vielleicht war es Daisy, mit der sich Suleika jetzt unterhielt. Virtuell. Erika trank ihren Wein schnell. So allein wie an diesem Gasthaustisch, so allein wie mit ihrer Familie, die sie ignorierte, würde sie nie mehr sein. Max stand immer wieder auf und ging nach drauÃen, um zu telefonieren.
«Sollen wir dich zurückfahren?», fragte er, als er wieder hereinkam.
«Nein, schon in Ordnung», sagte sie. Und dann ging sie allein durch den Sommerabend. Es war immer noch hell. Der Tag, an dem sie ihr Leben änderte, war vorüber, und sie hatte nur am Rand gestanden und zugeschaut. Sie lauschte dem Motorengeräusch des Lieferwagens, bis sie es nicht mehr hörte. Mit jedem Schritt, den sie auf die Siedlung zuging, fühlte sie sich leichter. Doch in der Unterführung holte die Angst sie ein. Sie steckte eine Hand in ihre Tasche, schloss die Finger um den Schlüsselbund. Mit der anderen hielt sie den Taschenriemen auf ihrer Schulter fest. Ihre Schritte hallten, vielleicht waren es auch die Schritte von jemand anderem. Beinahe hoffte sie, überfallen zu werden, niedergeschlagen. Dann müsste sie nicht weitergehen. Dann müsste sie kein neues Leben beginnen. Ihre Auszeit würde ewig dauern. Doch
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