Das wahre Leben
ungeschoren erreichte sie das Ende der Unterführung. In der Siedlung erinnerte sie sich einen wahnwitzigen Moment lang nicht mehr an ihre neue Adresse. In welchem Block wohnte sie? In welcher Nummer?
Sie irrte zwischen den Blöcken herum, zwischen ihrem alten Leben und dem neuen. Sie war aus der Welt gefallen. In diesem Moment gab es sie nicht.
Im nächsten wusste sie wieder, wo sie war. Sie erkannte ihre Hausnummer. Vor dem Eingang stand ein Grüppchen rauchender Jungs. Ob es dieselben waren wie am Nachmittag, konnte sie nicht sagen. Wieder roch es nach Gras. Tief atmete sie ein, wurde langsamer. Plötzlich wünschte sie sich, Max wäre hier. Er wüsste, wie man sich verhalten sollte.
SchlieÃlich ging sie mit gesenktem Kopf zur Eingangstür. An den Jungen vorbei, die murmelnd zurückwichen. Ob es GrüÃe waren, die sie murmelten, oder Drohungen? Sie schloss ihre Wohnung auf und schaltete das Licht ein. So stand sie einen Augenblick in ihrem hell erleuchteten leeren Wohnzimmer wie in einem Schaukasten. Ausstellungsstück E. Erika, fehl am Platz. Sie schaltete das Licht wieder aus. Sie war allein.
Nevada
1.
«Wir müssen reden», sagte Sierra. Es war Montag, die Gesundheitsoase geschlossen. Sierra würde mit ihr zu einem Spezialgeschäft für Sanitätsbedarf fahren, um einen Rollstuhl auszusuchen. Es war so weit.
Und nun wollte Sierra reden. Plötzlich. Sierra wollte nie reden. Sie arbeitete lieber mit ihren Händen, mit ihrem Körper. Und sie frühstückte auch nicht. Doch heute hatte sie in der Lounge der Gesundheitsoase einen der niedrigen Tische gedeckt. Sie hatte Kaffee gekocht, kunstvoll zubereitete Milchschaumkreationen in hohen Gläsern, sie hatte gefüllte Croissants gekauft und irgendetwas mit Puderzucker. Während sie auf Nevada wartete, hatte sie Papierservietten zu Schwänen gefaltet.
Nevada befürchtete das Schlimmste. Umständlich lieà sie sich in einen der tiefen Sessel sinken, aus dem sie, das wusste sie, nicht ohne Hilfe wieder aufstehen konnte. Sie nahm sich ein Croissant. Dass sie gerne aÃ, war neu. Auch das hatte sie der Krankheit zu verdanken. Das Essen stärkte sie, nährte sie, machte sie froh. Sie hielt sich an keine ihrer früheren Regeln mehr, sie aà Fleisch und Zucker und weiÃe Speisen, sie trank Kaffee, sie trank Wein.
«Jeder Fall ist anders», hatte Doktor Fankhauser zu ihr gesagt. «Sie sind Ihre eigene Expertin, Ihre beste Referenz.»
Ihr Körper hatte sich verändert, er war weicher geworden. Wenn sie saÃ, legte sich ihr Bauch in sanfte Falten. Zu ihrem eigenen Erstaunen fand Nevada das schön. Früher war es ihr Ehrgeiz gewesen, keinen Abdruck zu hinterlassen, wenn sie sich in den nassen Sand legte. Im Spiegel zu verschwinden, wenn sie sich zur Seite drehte. Heute mochte sie die blasse Weichheit ihres Fleisches, das ihre Schmerzen sanft umhüllte.
Die schwarze Schokolade war hart inmitten des fettigen blättrigen Teigs, sie biss und kaute, bis die Schokolade schmolz in ihrem Mund. Sie trank einen Schluck Kaffee.
Sierra legte die Hände auf ihre Oberschenkel, als wollte sie sich abstoÃen.
«So», sagte sie. «Also. Es ist so: Ich will etwas anderes machen.» Sie sprach zögernd, holte immer wieder Luft mitten im Satz, sie klang beinahe wie Dante, dachte Nevada. Einen Augenblick lang war sie versucht, diesen Gedanken auszusprechen. Nur um seinen Namen in den Mund zu nehmen. Nur um jemandem von ihm zu erzählen. Aber warum dachte sie überhaupt an den blassen dünnen Mann? Sie war eine fast vierzigjährige Frau, die heute einen Rollstuhl bekam.
«Die Gesundheitsoase war nie wirklich mein Ding», fuhr sie fort. «Und jetzt, wo Mama weg ist â¦Â» Ihre Mutter Martha hatte vor einem Jahr wieder geheiratet und war ihrem Mann, einem Keramikkünstler, nach Teneriffa gefolgt. Sierra hatte die Gesundheitsoase weitergeführt. In Marthas Sinn, aber ohne deren Ãberzeugung.
«Mit ihr hab ich schon gesprochen. Sie sagt, wir sollen das untereinander ausmachen, wir erben das Haus ja ohnehin. José versorgt sie gut, offenbar verkaufen sich seine Sachen hervorragend.»
«Und wenn nicht, hat sie ja dort auch ihre Frauengruppen und ihre Massagepraxis â¦Â»
«Eben. Also.» Sierra zerlegte ein Mandelcroissant auf ihrem Teller. Puderzucker wirbelte auf, Marzipan verklebte ihre Finger.
Nevada bekam ein wenig Angst. Ihre Schwester
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