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Das wahre Leben

Titel: Das wahre Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Moser
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nächsten Ersten beziehen könnte. Plötzlich ging alles sehr schnell. Ihr ganzes Leben änderte sich. Schon wieder.
    Â«Ich werde dich vermissen», sagte Sierra.
    Â«Ich dich auch.» Doch wenn Nevada ehrlich war, konnte sie es nicht erwarten. Sie wollte in der Nähe ihrer Mädchen sein. Sie wollte sich um sie kümmern. Auf sie aufpassen. Für sie da sein.
    Â 
    Â«Regeln sind Regeln», sagte Frau Rothenbühler, die Sozialarbeiterin, die das Projekt mit entwickelt hatte. «Wir können Elma nicht alles durchgehen lassen, nur weil sie ein Mädchen ist.»
    Â«Wie alt ist sie noch mal?» Frau Siebenthaler, die Schulpsychologin, wühlte in ihren Akten.
    Â«Vierzehn», sagte Nevada. Dijana war mit zwölf die Jüngste, Rebecca mit siebzehn die Älteste. Sie musste mehrere Klassen wiederholt haben. Sollte die Frau das nicht wissen?
    Zu ihrer letzten Yogastunde waren nur fünf der acht Mädchen erschienen. Elma, Deniz und Lana fehlten. Lanas Mutter hatte sie per E-Mail bei Ted entschuldigt. Ihre Tochter habe sich beim Yoga den Rücken verrenkt, schrieb die Mutter, und werde deshalb aus der Gruppe austreten. Vor allem, da ihre Teilnahme von vorneherein auf einem Missverständnis beruht habe. Ted hatte Nevada die Mail weitergeleitet und vorgeschlagen, dass sie sich nach der Stunde zusammensetzen und das weitere Vorgehen besprechen würden.
    Die Mädchen waren zu spät gekommen. Alle in den letzten Wochen geduldig eingeübten Regeln – Schuhe ausziehen, Handy abgeben, den Raum schweigend betreten – waren vergessen. Zu fünft füllten sie mit ihrer nervösen Energie die ganze Turnhalle, ihre Stimmen stiegen bis zur Decke hoch und ließen die dort aufgehängten Ringe und Trapezstangen schaukeln. Nevada versuchte, sie mit wechselseitiger Nasenatmung zu beruhigen, mit der Betonung auf dem Ausatmen, doch nach wenigen Runden gab sie auf.
    Â«Also gut, was ist los?»
    Â«Elma ist im Spital!»
    Â«Deniz und Elma haben sich geprügelt!»
    Â«Elma hat was mit dem Bruder von Deniz angefangen!»
    Â«Selber schuld, die fette Schlampe!»
    Â«Mit Farik? Der ist doch viel zu alt!»
    Â«Du Mongo, Elma ist lesbisch!»
    Â«Du musst es ja wissen!»
    Nevada hätte gern verstanden, was wirklich passiert war, aber so würde sie es nicht erfahren. Um die drohende Eskalation zu verhindern, ließ sie die Mädchen vierundzwanzig Sonnengrüße nach Swami Satchidananda absolvieren, mit angehaltenem Atem. Danach kehrte eine erschöpfte Ruhe ein. Die Energie verdichtete sich, legte sich schützend um die Mädchen, die auch jetzt, nach mehr als zehn Stunden Üben, nicht mal auf dem Rücken liegend mit geschlossenen Augen entspannen konnten. Nevada ließ sie das Zusammengerollte Blatt einnehmen, das sie nur in Erwachsenenstunden die Stellung des Kindes nannte. Jugendliche wollten keinen Kinderkram machen. Nevada hatte allerdings auch noch nie ein Kind gesehen, das sich so ausruhte, kniend, mit der Stirn am Boden. Eher erinnerte die Stellung sie an eine Gebetshaltung. Eine alte Zeitungsmeldung fiel ihr ein, über eine Mordserie in Kairo. Eine Frau hatte ihren Mann erschlagen, während er betend vor ihr kniete. Sie hatte ihn in Stücke geschnitten, die Teile in blaue Plastiksäcke gepackt und einzeln entsorgt. Mit dem Bus war sie durch die ganze Stadt gefahren und hatte eine Tüte nach der anderen in öffentliche Abfalleimer in Parks und an Bushaltestellen gesteckt. Ein Busfahrer hatte ihr dabei noch geholfen. Als alles herauskam, rollte eine Welle von Nachahmungen über die Stadt. Und führte dazu, dass verheiratete Männer es nicht mehr wagten, zu Hause zu beten. So wurden immerhin die Moscheen wieder voll.
    Es gab keine Stellung der Hingabe und der Entspannung, die nicht gleichzeitig größte Wehrlosigkeit ausdrückte. Nevada hatte es sich zum Ziel gesetzt, dass die Mädchen lernten, diese Stellungen einzunehmen. Dass sie sich damit sicher fühlten, dass sie die Augen schließen konnten. Diesem Ziel war sie Woche für Woche näher gekommen. Jetzt stand sie wieder am Anfang.
    Immerhin erlaubte ihr der Rollstuhl, leise von einem Mädchen zum nächsten zu kommen. Sie setzte ihre Füße auf die gekrümmten Wirbelsäulen und presste sie sanft. Sie spürte, wie die Mädchen zusammenzuckten, den Atem anhielten, sie wussten nicht, was sie da berührte. Es mochte sich gut anfühlen,

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